© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/17 / 14. Juli 2017

Alarmstufe Rot
Terrorabwehr: Mit einer „Ampel“ zur Risikobewertung will das Bundeskriminalamt potentielle Attentäter entdecken, bevor diese zuschlagen
Peter Möller

Die deutschen Sicherheitsbehörden hatten Anis Amri auf dem Radar. Doch sie zogen die falschen Schlüsse. Obwohl der 24 Jahre alte Tunesier, der am 19. Dezember 2016 einen Lkw in den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtsniskirche steuerte und dabei zwölf Menschen tötete, als Salafist und gewaltbereiter islamistischer Islamist im Fokus stand, erkannten die Behörden offenbar nicht, wie brandgefährlich Amri tatsächlich war: Noch Anfang November kam das Gemeinsame Terror-Abwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden zu der fatalen Einschätzung, von Amri gehe derzeit keine akute Gefahr aus (JF 27/17). 

Geht es nach dem Willen des Bundeskriminalamtes (BKA), wird sich so ein verhängnisvoller Fehler bei der Einschätzung eines Gefährders vom Kaliber eines Anis Amri nicht mehr wiederholen. „Unter den Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit und der Gewährleistung der Sicherheit ist es geboten, daß sich die Sicherheitsbehörden noch zielgerichteter mit den Personen befassen, bei denen ein hohes Risiko besteht, Gewalttaten zu begehen“, heißt es dazu vom BKA.

Von diesem Monat an soll daher ein Programm mit dem Namen „Radar-iTE“ (regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos – islamistischer Terrorismus) den deutschen Terroristenjägern dabei helfen, potentielle Attentäter aus dem Verkehr zu ziehen, bevor sie zuschlagen können. Dieses sogenannte „Risikobewertungsinstrument“ wurde seit Anfang 2015 vom BKA gemeinsam mit der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie der Universität Konstanz entwickelt und soll es ermöglichen, anhand aller vorliegenden Informationen über einen Gefährder das von ihm ausgehende Risiko realistisch einzuschätzen.

Bei diesem „Radar“ handelt es sich allerdings nicht um ein Computerprogramm, das automatisch die Gefahr bewertertet, die von einem Islamisten ausgeht, sondern um eine formalisierte Prozedur. Dabei sollen die zuständigen Beamten mit standardisierten Fragen eines Risikobewertungsbogens und festgelegten Antwortkategorien möglichst viele Informationen aus dem Leben des potentiellen Terroristen zusammentragen und gewichten. Die dabei abgefragten Informationen beziehen sich nach Angaben des BKA auf beobachtbares Verhalten und ausdrücklich nicht etwa auf Merkmale wie die Gesinnung oder Religiosität einer Person. Denn die Behörden wollen mit diesem Verfahren nicht herausfinden, was der Betreffende denkt, sondern wie er vermutlich handeln wird. Dazu wird beispielsweise gefragt: Ist der Gefährder gewalttätig? Wie verhält er sich gegenüber den Behörden? Welche Erfahrungen hat er mit Waffen und Sprengstoff? Welche Kontakte hat der Betreffende außerhalb der Szene?

Es geht um das Verhalten, nicht um die Gesinnung

Am Ende der Prozedur wird die bewertete Person nach festgelegten Regeln einer dreistufigen Risikoskala zugeordnet. Diese unterscheidet zwischen einem moderaten Risiko, einem auffälligen und einem hohen Risiko. Der überprüfte Gefährder bekommt schließlich eine entsprechende Ampelfarbe zugeordnet: Grün, Gelb – oder Rot. Anhand dieser Einschätzung können die Behörden entsprechende Maßnahmen ergreifen. „Damit wird erstmals eine bundesweit einheitliche Bewertung des Gewaltrisikos von polizeilich bekannten militanten Salafisten möglich“, sagt BKA-Präsident Holger Münch. „So können sich die Sicherheitsbehörden noch zielgerichteter mit den Personen befassen, bei denen ein hohes Risiko besteht.“

Anhand der Erkenntnisse, die den Behörden vor dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt über Amri vorlagen, wurde der Tunesier noch einmal vom „Radar“ überprüft. Das Ergebnis: Anders als bei der Einschätzung des GTAZ im November 2016 kam das neue Verfahren zu einem eindeutigen Ergebnis: Amri wurde als Gefährder der Kategorie „Rot“ eingestuft.

Auch wenn das „Radar“ bei Anis Amri zu spät kommt: Der Bedarf für ein solches Instrument ist groß. Denn der Salafismus, der für die meisten islamistischen Täter die ideologische Grundlage ist, hatte 2016 nach Angaben des Verfassungsschutzes mittlerweile 9.700 Anhänger in Deutschland, der Bundesinnenminister nannte vergangene Woche sogar die aktuelle Anzahl von 10.100. Derzeit werden von den Behörden zudem 1.200 Menschen direkt zum „islamistisch-terroristischen Personenpotential“ gerechnet. 680 von ihnen gelten als sogenannte Gefährder: Ihnen trauen die Sicherheitsexperten einen Anschlag zu.

Auch aus diesem Grund ist das neue „Radar“ für das BKA nur ein Baustein bei der Risikobewertung, mit dem erste Priorisierungsentscheidungen getroffen werden könnten. Um polizeiliche Interventionsmöglichkeiten jedoch zielgenau auszurichten, seien weitere Schritte notwendig: „Die individuellen Merkmale eines Falls müssen noch stärker berücksichtigt und fachlich eingeordnet werden, um ein genaues Bild über die Problembereiche, aber auch die Schutzbereiche der einzelnen Personen zu erhalten“, teilte die Behörde zum Start des „Radars“ mit. Darum werde auf Radar-iTE aufbauend das zweistufige Risiko-Analyse-System „Riskant“ entwickelt, das eine einzelfallorientierte Bedrohungsbeurteilung und individuelle Maßnahmenberatung für die festgestellten Hoch-Risiko-Personen ermöglichen solle.

Auch wenn erste Tests des „Radars“ gute Ergebnisse gebracht haben, wird von Sicherheitsexperten vor zu hohen Erwartungen an das neue Terrorabwehr-Instrument gewarnt. Auch mit dem Radar-iTE ließen sich Anschläge nicht völlig ausschließen. Schließlich werde nach Angaben des BKA für eine Risikobewertung „ein Mindestmaß“ an Informationen über den potentiellen Attentäter benötigt. Mit anderen Worten: Gefährder, die bislang völlig unterhalb des Radars der Sicherheitsbehörden in Deutschland leben und über die daher keine Informationen vorliegen, können auch nach der neuen Methode nicht enttarnt werden. Sie bleiben weiter unentdeckt – bis sie zuschlagen.





Radar-iTE

Sicherheitsbehörden erfassen zielgerichtet gewaltbereite Personen des militant-salafistischen Spektrums

Derzeit werden 1.200 Personen zum islamistisch-terroristischen Potential gerechnet, 680 gelten als Gefährder

Bewertungsbogen für die Zuordnung auf einer bundesweit einheitlichen Risikoskala

Anhand der Zuordnung werden „Interventionsmaßnahmen“ getroffen