© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/17 / 07. Juli 2017

„Wo kein Kläger, da kein Richter“
Warum ist die „Ehe für alle“ mit dem Grundgesetz unvereinbar? Wieso könnte das Gesetz dennoch nicht in Karlsruhe landen? Und wenn doch, weshalb ist nicht sicher, daß die Richter es kippen? Ex-Verfassungsrichter Hans Hugo Klein gibt Antwort
Moritz Schwarz

Herr Professor Klein, wird die sogenannte Ehe für alle vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben?

Hans Hugo Klein: Heikel, denn da müßte ich mich in Prophetie versuchen. Denn es ist immer schwer vorauszusagen, wie Karlsruhe entscheiden wird – wenn es überhaupt entscheiden muß.

Der Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hält die „Ehe für alle“ für grundgesetzwidrig.

Klein: Das sehe ich ebenso, denn das Verfassungsgericht hat in einer Entscheidung 2002 die Ehe eindeutig als die „Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft“ definiert. Und dies mehrfach, zuletzt 2014, bestätigt.

Dann muß es also zur Klage kommen? 

Klein: Keineswegs, denn da die „Ehe für alle“ für die Bürger keinen direkten Nachteil bedeutet, können diese auch nicht klagen. Was bleibt, ist eine sogenannte Normenkontrollklage. In einem Normenkontrollverfahren muß das Verfassungsgericht überprüfen, ob das Gesetz den Normen des Grundgesetzes entspricht. Antragsberechtigt sind die Bundesregierung, die Landesregierungen sowie ein Viertel der Mitglieder des Bundestages. Werden Bundesregierung oder eine Landesregierung das tun? Wohl kaum, denn überall – in Bund wie Ländern – regieren Koalitionen, die das nicht zulassen. Allein Bayern hat eine Alleinregierung. Aber nachdem die CSU ihren Abgeordneten bei der Debatte im Bundestag die Entscheidung freigestellt hat, ist es unwahrscheinlich, daß die von ihr gestellte Landesregierung nun dagegen klagt. Bleibt der Bundestag: Nötig ist, daß ein Viertel der Abgeordneten – konkret 158 – die Klage unterstützt. Übrigens: Verfassungsbeschwerde eines oder einer einzelnen Abgeordneten ist nicht möglich. Denn dafür müßte der oder die Abgeordnete geltend machen können, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Das ist aber nicht der Fall. Bleibt also die Frage: Findet sich im Bundestag das benötigte Viertel?  

Die „Ehe für alle“ könnte also, obwohl grundgesetzwidrig, geltendes Recht bleiben?  

Klein: Wo kein Kläger, da kein Richter. 

Eine Klage wird scheitern – so die Anhänger der „Ehe für alle“ –, denn was eine Ehe ist, das definiert das Grundgesetz gar nicht. Wenn sich aber, so heißt es, die „herrschende Auffassung“ vom Wesen der Ehe ändert, könne dies auch „in der gesetzlichen Regelung“ zum Ausdruck kommen.  

Klein: Dieser Argumentation folge ich nicht, sie ist meines Erachtens methodisch unzulässig. Denn allein wegen eines behaupteten Wandels gesellschaftlicher Auffassungen kann eine Neuinterpretation eines verfassungsrechtlichen Begriffs – in diesem Fall eines von der Verfassung gewährleisteten Rechtsinstituts – nicht erfolgen. 

Wie kann es dann sein, daß Bundesjustizminister Maas behauptet, das Gesetz sei verfassungskonform?

Klein: Das fragen Sie ihn. Denn ein verfassungswidriges Gesetz wird nicht dadurch verfassungsgemäß, daß es in der Gesellschaft auf Zustimmung stößt. 

Weiß das Heiko Maas nicht?

Klein: Wie heißt es so schön: „Zwei Juristen, drei Meinungen.“ Jedenfalls vertritt bei der „Ehe für alle“ schon das Bundes­innenministerium eine andere Auffassung als Minister Maas.       

Aber stimmt das Maassche Argument denn nicht? Im Grundgesetz – Artikel 6 Absatz 1 – heißt es tatsächlich nur: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Was eine Ehe ist, wird in der Tat nicht gesagt.

Klein: Das ist richtig, doch muß der Wortlaut des Grundgesetzes stets im Zusammenhang mit dessen Entstehung interpretiert werden. Und 1949 lag es außerhalb des Vorstellbaren, die Ehe anders als alleine als Verbindung von Mann und Frau zu verstehen. Anmerkung: Es geht hier um die Ehe – nicht um die rechtliche Gleichstellung der Lebenspartnerschaften von Homosexuellen, die ja auch mit Zustimmung der Verfassungsrichter längst weitgehend erfolgt ist.

Rechtsprechung ist immer auch Auslegung der Gesetze. Kann das Verfassungsgericht unter dem Eindruck des angeblichen gesellschaftlichen Wandels seine Rechtsprechung von 2002 nicht doch ändern?

Klein: Das kann es. Aber schwierig wäre es angesichts der bisher eindeutigen Äußerungen schon. Indes: Überraschungen sind möglich. Deshalb meinte ich eingangs ja auch, daß es unmöglich ist, den Ausgang eines etwaigen verfassungsgerichtlichen Verfahrens vorauszusagen.

Ist aber überhaupt vorstellbar, daß es Karlsruhe – angesichts der neuen Mehrheit im Bundestag und der mutmaßlichen Mehrheit im Volk – wagen wird, bei seiner bisherigen Rechtsprechung zu bleiben?

Klein: Aber sicher, denken Sie etwa an die Entscheidung zur Fristenlösung bei Abtreibungen von 1993. Damals wie zwanzig Jahre zuvor beschloß das Gericht unter Inkaufnahme politischen Widerspruchs und angesichts einer konträren gesellschaftlichen Stimmung, daß eine Fristenregelung vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben könne.

Belegt aber nicht genau dieses Beispiel das Gegenteil? Nämlich, daß sich das Gericht eben nicht traut, zu widerstehen. Noch 1974 hatte es die Fristenregelung verworfen. 1993 dann aber clever konstruiert, daß Abtreibung (ohne bestimmte rechtfertigende Gründe) zwar rechtswidrig ist, aber straffrei bleiben kann. Zeigt also dieser Fall nicht ein klassisches „Sich-aus-der-Affäre-Ziehen“, wie wir es später auch mit den „Ja, aber“-Entscheidungen des Gerichts in puncto EU und Euro erlebt haben?

Klein: Das sehe ich anders. Der Fristenlösung lag die Auffassung zugrunde, es sei das Recht jeder Frau, ihre Schwangerschaft während der ersten drei Monate aus beliebigen Gründen abzubrechen. Dieses Recht hat das Bundesverfassungsgericht klar verneint. Die Rechtsprechung zu EU und Euro ist viel zu kompliziert, als daß sie sich so knapp charakterisieren ließe. Ich glaube auch nicht, daß sich das Verfassungsgericht vor unpopulären Entscheidungen scheut – dafür gibt es zu viele Gegenbeispiele.         

Laut Fürsprechern der „Ehe für alle“ war der bisherige Rechtszustand diskriminierend. Folglich wäre also entweder das Grundgesetz oder das Bundesverfassungsgericht „homophob“ und „sexistisch“?  

Klein: Hier von Diskriminierung zu sprechen, ist geläufig, aber unsinnig. Das Grundgesetz verpflichtet dazu, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Die Ehe von Mann und Frau ist offensichtlich nicht das gleiche wie die Verbindung eines homosexuellen Paares. Der Verfassunggeber hat das noch gewußt. Rückt man davon ab, muß man sich bewußt machen, für was man Tür und Tor öffnet: Wenn nicht nur Mann und Frau, sondern auch Gleichgeschlechtliche eine Ehe eingehen können, weil einziges Kriterium ist, daß die Menschen einander lieben, wie will man dies dann zum Beispiel Geschwistern verbieten? Oder wenn drei oder fünf Menschen einander heiraten wollen? 

Überspitzt gefragt:Warum sollten nach dieser Logik nicht auch gleichgeschlecht­liche, jedoch heterosexuelle Männer oder Frauen, die einander freundschaftlich zugetan sind und füreinander sorgen wollen, eine Ehe schließen können, um deren Vorteile zu genießen?

Klein: Eben, mit diesem Verständnis der Dinge könnte sich eines Tages alles Mögliche etablieren und das Institut der Ehe ad absurdum führen. Auf diesem Wege könnte auch die islamische Vielehe bei uns gesetzlich heimisch werden. Warum sollten Moslems nicht mit Verweis auf die Religionsfreiheit diese – dann mit Recht – hierzulande durchsetzen? 

Übertreiben wir nicht mit solchen Szenarien? Sind sie wirklich realistisch?

Klein: Solche Entwicklungen sind, sollte die „Ehe für alle“ Bestand haben, zweifellos möglich, ob sie auch wahrscheinlich sind, das kann ich nicht sagen. Darum aber geht es auch nicht, sondern um die fragwürdige Schlußfolgerung, daß eine allgemeine Anerkennung einer homosexuellen Verbindung von nun an automatisch in den verfassungsrechtlichen Begriff einer Ehe mit eingeht. Wenn es eines Tages zur Aufnahme weiterer Verbindungen, wie oben aufgeführt, in die Definition der Ehe kommen sollte, müßte man zwar erneut die Verfassung ändern. Dem stünde dann, nach der nun etablierten Logik, aber nichts mehr im Wege.

Es gibt im linksradikalen Spektrum schon lange die erklärte Idee, Ehe und Familie zu zerstören – um letzlich die Gesellschaft zu zerstören. Handelt es sich bei der „Ehe für alle“ um einen weiteren Schritt auf diesem Wege oder halten Sie das für eine Verschwörungstheorie?

Klein: Ich meine, das kann man durchaus so sehen. Die Ehe wird ein Stück weit beliebig und damit – auch als die Gesellschaft prägende Errungenschaft – entwertet. Und diese Beliebigkeit läßt sich auf dieser Basis künftig weiter steigern.

Warum kommt dieser Aspekt dann in der Debatte nicht vor? 

Klein: In der Tat wird dieser Aspekt kaum erkannt – die katholische Kirche wird man, das sei zu ihrer Ehre gesagt, immerhin ausnehmen müssen. Andererseits muß man sagen, daß sich diese Sicht der Dinge auch nicht gerade aufdrängt. Denn die Szenarien, die wir oben aufgezeigt haben, klingen heute doch tatsächlich noch eher absurd als wahrscheinlich. Jedoch sollte man bedenken, daß das ebenso für das gilt, was wir heute erleben – aus der Sicht des Jahres 1949, als der Artikel 6 des Grundgesetzes beschlossen wurde. Fazit: Institutionen wie die Ehe müssen gepflegt werden, wenn sie nicht in völliger Beliebigkeit enden sollen.  

Sie sind CDU-Mitglied. Wie empfinden Sie als solches das Verhalten Ihrer Partei? 

Klein: Ich sehe das als doppeltes politisches Manöver im beginnenden Wahlkampf: Die SPD wollte diesen Erfolg für sich verbuchen und mindestens einmal praktizieren, was sie generell anstrebt: Rot-Rot-Grün. Und Angela Merkel wollte Ballast loswerden, der ihr nach der Wahl in Koalitionsverhandlungen hätte im Weg stehen können. 

Fühlen Sie sich von Frau Merkel verraten? 

Klein: Nein, da sie die Abstimmung ja „freigegeben“ und selbst dagegen gestimmt hat. Es sind eher andere Veränderungen, die mich enttäuschen: Erstens die De-facto-Preisgabe der Wehrpflicht, veranlaßt ausgerechnet von einem CSU-Minister. Zweitens die überstürzte Energiewende, die Deutschland noch mit enormen Kosten belasten wird, von denen die meisten Bürger bis jetzt noch nicht einmal etwas ahnen und die ihnen auch nicht erklärt werden. Drittens die zeitweise unkontrollierte Öffnung der Grenzen. Man könnte auch noch auf die doppelte Staatsangehörigkeit verweisen; auch hier wird ein bewährtes Rechtsinstitut aufgeweicht. Ich spreche mit vielen Leuten, die das ebenso sehen, denen aber die Alternative fehlt. Denn die AfD ist unwählbar. So bleibt, wie zu befürchten ist, vielen nur die Stimmenthaltung. Ich werde allerdings trotz manchen Unmuts meine Partei auch dieses Mal wieder wählen. 






Prof. Dr. Hans Hugo Klein, war von 1983 bis 1996 Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Er lehrte außerdem von 1969 bis zu seiner Emeritierung 2001 an der Universität Göttingen und ist geschäftsführender Herausgeber des Grundgesetzkommentars von Maunz-Dürig. 1970 trat er in Niedersachsen der CDU bei und war für diese von 1972 bis 1983 Abgeordneter des Deutschen Bundestags. Von 1982 bis 1983 diente er zudem als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz. Geboren wurde Hans Hugo Klein 1936 in Karlsruhe.

Foto: Erster Senat des Bundesverfassungsgerichts (2013, bei der Verkündung einer Entscheidung): „Für Karlsruhe ist die Ehe eindeutig die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau“

 

weitere Interview-Partner der JF