© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

Die Parallelen liegen auf der Hand
Günter Scholdt entblößt anhand literarischer Klassiker die Irrungen und Wirrungen des Zeitgeistes
Thorsten Hinz

Insgesamt 31 klassische Texte der deutschen und der Weltliteratur durchmustert der Literaturwissenschaftler Günter Scholdt in seinem neuen Buch. Die Musterung ist ein dialektisches Verfahren. Die Gegenwart erscheint im Spiegel der Literatur und die Literatur im Spiegel der Gegenwart. Indem Scholdt die Zeitnähe altvertrauter Werke erläutert, führt er zugleich aktuelle Erfahrungen, die für neu und einzigartig gehalten werden, auf geschichtliche und anthropologische Konstanten zurück. Das Kriterium für die Klassizität eines Werks ist neben seiner Qualität und Bekanntheit ein Mindestalter von fünfzig Jahren, so daß die Kanonisierung als einigermaßen sicher gelten kann. Die Liste der vorgestellten Autoren reicht vom griechischen Fabeldichter Äsop über Bertolt Brecht, Alexandre Dumas, Franz Kafka, die unbekannten Chronisten des Nibelungenliedes, Platon und Sophokles bis zu Carl Zuckmayer.

Aus seinem enormen Kenntnisfundus schöpfend und mit erzählerischer Verve präpariert Scholdt aus den Dramen, Epen, Gedichten und Prosawerken den ideellen Kern heraus und setzt ihn mit der Gegenwart in Beziehung. Hans Christian Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ interpretiert er als ein „konservatives Märchen“, das in der Realität zahllose Urständ feiert. Der Kaiser, der noch gravitätischer daherschreitet, nachdem die Leute ihn als nackt identifiziert haben, kehrt in den Politikern und Experten wieder, die aus dem Scheitern ihrer Euro-Rettungspolitik den absurden Schluß ziehen, daß die Rettung eben noch konsequenter durchgeführt werden müsse. Der moderne Kunstbetrieb basiert in weiten Teilen auf der Leichtgläubigkeit und Selbstsuggestion der Betrachter, und die Delegierten, die auf dem letzten CDU-Parteitag der Kanzlerin mehr als zehn Minuten zujubelten, sind die Wiedergänger der kaiserlichen Hofschranzen, die dem nackten Monarchen die eingebildete Schleppe hielten.

Durchmustert werden die Dystopien von George Orwell und Aldous Huxley sowie Ernst Jüngers „Gläserne Bienen“, die das Nebeneinander von technischem Fortschritt mit gesellschaftlicher und geistiger Regression aufzeigen. Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ interpretiert Scholdt als Parabel auf das Zurückweichen der Europäer vor dem politischen Islam. Herr Biedermann, sonst ein eiskalter Geschäftsmann und Widerling, wagt nicht, die neuen Mieter aus dem Haus zu werfen, die Benzinfässer bei ihm einlagern und sich bald als Verbrecher herausstellen. Er hat Angst vor ihrer körperlichen Kraft, aber auch vor der öffentlichen Meinung, die ihn als humorlosen Spießer verspotten würde. Man solle doch nicht immer das Schlimmste denken, und handelte es sich tatsächlich um Brandstifter, müßten sie ihn wohl kaum um Streichhölzer bitten, weil sie selber welche hätten. Mit solcher Scheinlogik verschließt er sich der Wirklichkeit, die folgerichtig in der Katastrophe endet.

Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ ist keineswegs die repräsentative Mentalitätsgeschichte des Kaiserreichs, als die er bis heute rezipiert wird. Laut Scholdt ist Diederich Heßling ein geheimes Selbstporträt des Autors und gleichzeitig ein „überzeitlicher Charaktertypus“, in dem „Feigheit und Militanz“ zusammenfinden. Stets schlägt er sich zu den „Siegern der Geschichte“ und beteiligt sich – so ein Bonmot von Michael Klonovsky – genauso eifrig am Holocaust wie am Bau des Holocaust-Denkmals.

Literatur gegen den real existierenden Wahnsinn

Mit dem 1943 in Paris uraufgeführten Stück „Die Fliegen“ wollte Jean-Paul Sartre die Zuschauer aus der Schockstarre befreien, in die ganz Frankreich nach der Niederlage 1940 verfallen war. Die Insekten, die über die Stadt Argos einen Grauschleier gelegt haben, symbolisieren einen allgegenwärtigen Reuekult, der schon kleinen Kindern das Gefühl ihrer „Erbschuld“ einpflanzt. Mit einer neuen Bluttat befreit Orest die Stadt von dem Fluch, zahlt dafür aber mit der Ausstoßung aus der Gemeinschaft. Die Parallelen zu Deutschland liegen auf der Hand, was der Grund dafür ist, daß das Stück hier nur selten gespielt wird.

Ein querulantischer Rechthaber heißt umgangssprachlich ein „Kohlhaas“. Doch Kleists Titelheld Michael Kohlhaas ist in Wahrheit ein Streiter für den Rechtsstaat, ein Mutiger und Charakterstarker, der gegen die „strukturelle Ungerechtigkeit“ aufbegehrt. Weil ihm kein anderer Weg mehr offensteht, beschreitet er den des „gewaltsamen Aufruhrs“, womit er selber Schuld auf sich lädt. Seine schließliche Größe besteht darin, daß er das über ihn verhängte Todesurteil als „Selbstopfer um der künftigen Rechtsautorität willen“ akzeptiert. Das unterscheidet ihn von den gefaßten RAF-Terroristen, die eine Vorzugsbehandlung für sich beanspruchten, oder den Teilnehmern illegaler Straßenblockaden, die wenn die Polizei ihre Namen notiert, lamentieren, sie hätten doch nur die geforderte „Zivilcourage“ gezeigt.

Als wahrer Held unserer Zeit erscheint Don Quichote, der Ritter von der traurigen Gestalt und das Sinnbild des „nutzlosen Dienens“. Nicht er ist irre, sondern die Zeit, in die er gestellt ist. Er sieht es als die höchste Aufgabe an, der „Steuermann seines Narrenschiffes zu sein“ (Egon Friedell). Als Narr erscheint er nur, weil die „ethisch höhere Existenz“, die er erstrebt, auf Erden nicht zu haben ist.

Die Lektüre ist ein literarisches Bildungserlebnis, beschert eine scharfsinnige Gegenwartsanalyse und ist obendrein amüsant. Gerade das Changieren zwischen Wirklichkeit und Literatur verleiht den beschriebenen Mißständen in der bundesdeutschen Anstalt eine selten deutliche Kontur – und hilft, sich von ihnen nicht überwältigen zu lassen. Denn der real existierende Wahnsinn und das Leiden daran sind weder singulär noch exklusiv, sondern beständige Größen, die mal mehr, mal weniger hervortreten. Mit Scholz’ literarischer Musterung gewinnt der Leser eine philosophische Distanz zu den Zeitumständen und zur eigenen Befindlichkeit. Am Ende ist er sogar ein wenig heiter gestimmt und fühlt sich für den Sisyphos-Kampf gegen die Widrigkeiten besser gerüstet als zuvor.

Günter Scholdt: Literarische Musterung. Warum wir Kohlhaas, Don Quichote und andere Klassiker neu lesen müssen. Verlag Antaios, Schnellroda 2017, gebunden, 365 Seiten, 22 Euro