© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

Ästhetische Beleidigungen
Hochsommer: Ein Besuch im Biergarten offenbart, wie wenig stilsicher sich so manche Männer und Frauen kleiden
Ronald Berthold

Die sommerliche Wärme lockt mich in den gepflegten Biergarten südlich von Berlin. Es ist Wochenende und höchste Zeit, dem Gartenlokal einen Besuch abzustatten. Eine Brezel, ein paar Knacker und ein Weizenbier – was gibt es an einem Sonnabend Schöneres zur Mittagszeit? Die restaurierten Fassaden des Gutshofes und der Blick von meiner Bierbank auf die weite Landschaft sind eine Augenweide.

Ich freue mich über das warme Wetter und zunächst auch noch über die relative Leere des Biergartens. Doch dann beginnt sich der Ort zu füllen. Vor mir nimmt eine Gruppe von Ausflüglern Platz, die glaubt, sie sei hier allein. Es wird laut, auch über Nichtigkeiten lachen diese Zeitgenossen, als hätten sie noch nie einen Witz gehört. Mit der Augenweide ist es vorbei – nicht nur, weil mir nun der Blick auf Feld und Flur verstellt ist.

Was ich zu sehen bekomme, hat nichts mehr mit der Schönheit der Natur zu tun. Weizenbier kann eben auch Nebenwirkungen haben. Es verdichtet zuweilen die Leibesfülle. Da ist der Mittvierziger, der mir genau gegenübersitzt und der sich in ein viel zu enges Muskelshirt gepreßt hat. Unter seinen Armen wuchern die Achselhaare. Daß sie noch schweißgetränkt sind, spielt fast keine Rolle mehr. Das Teil ist auch noch viel zu kurz und wurde offenbar angeschafft, bevor Bier diesen Körper formte. Es reicht bis zum Bauchnabel. Die kurze Hose hängt viel zu tief, so daß ein zehn Zentimeter breiter Streifen den Blick auf Scham- und Bauchbehaarung freigibt. Dietmar, wie ihn seine Tischnachbarn nennen, scheint das nicht zu stören.

Es ist ein Graus mit dem Sommer. Die Zeiten, in denen wir uns im Schwimmbad an schön geformten Männern und Frauen erfreuen konnten, sind ohnehin vorbei. Schon ein vorsichtiger Blick, der nur zufällig junge Männer streift, garantiert heute ein aggressives „Was guckst du?“ und die Androhung von Prügel. Dort hinzugehen, fällt aus, weil Freibäder als Orte der Entspannung der Vergangenheit angehören.

Bleibt der Biergarten als Refugium für den gestreßten Großstädter. Doch wo sind die Frauen in ihren hübschen Sommerkleidern geblieben? Wo die Männer, die sich ein gut geschnittenes Hemd und eine passende Bundfaltenhose anziehen? Die keinen „Kurzarm“ tragen, sondern den „Langarm“ elegant hochkrempeln? Warum sehen plötzlich alle aus wie früher nur Gebrauchtwagenhändler?

Die Leggings betonen alle Rundungen – Uff! 

Als ich noch darüber sinniere, wandert mein Blick von Dietmar auf die neben ihm sitzende Frau. Es ist nicht zu überhören, daß sie Sandra heißt. Auch sie hat im Laufe der Jahre offenbar etwas zugenommen. Das ist kein Problem. Und wer wie ich im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Doch auch für fülligere Menschen gibt es passende Kleidung. Warum muß Sandra ein viel zu knappes Netzoberteil tragen? Warum muß ich auf die unter diesem Kleidungsstück blank liegenden Fleischröllchen sehen? Natürlich ist dieses Shirt genau wie bei Dietmar viel zu kurz.

Es gibt Menschen, die das tragen können. Sandra gehört nicht dazu. Als sie das erste Mal aufsteht, zeigt sie mir ihre Rückseite. Die Leggings sind dreiviertel lang, liegen eng an und betonen die Rundungen von Beinen und Hinterteil. Uff! Zwischen dieser Hose und dem Netzshirt präsentiert sie eine Tätowierung. Irgendjemand hat dafür mal den Begriff „Arschgeweih“ erfunden. Ich fand dieses Wort immer ziemlich vulgär, aber heute wirkt der Begriff auf mich authentisch.

Kennen Sie das auch? Sie müssen zwanghaft auf etwas Häßliches schauen? So geht es mir. Die wunderschöne märkische Landschaft liegt nicht nur im Hintergrund, sie gerät auch genau dorthin. Es reicht. Ich versuche mich abzulenken und blättere in einem mitgebrachten Gedichtband. Willkürlich schlage ich eine Seite auf und lande bei Heinrich Heines „Nachtgedanken“. In der letzten Strophe steht der schöne Satz: „Gottlob! durch meine Fenster bricht/ Französisch heitres Tageslicht;/ Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,/ und lächelt fort die deutschen Sorgen.“ Ist es wirklich so? Haben die Damen und Herren in Paris noch mehr Stil als die in Berlin?

Nachdenklich wende ich mich von dem Büchlein ab. Und siehe da: Eine attraktive, schlanke Frau geht durch die Reihen, hat ein Weinglas in der Hand und sucht offensichtlich einen Platz. Mit der auf den Scheitel gestellten Sonnenbrille hält sie ihre brünette Langhaarfrisur zusammen. Sie trägt ein kurzes rotes, tailliertes Kleid und dazu passende Pumps. Geht doch! Sich adrett anzuziehen kann so einfach sein, denke ich. Leider setzt sie sich außerhalb meines Blickfeldes. Mir bleibt die Ansicht der lärmenden Truppe um Dietmar und Sandra. Meine Gedanken schweifen zurück zu Heine. Ob die hübsche Unbekannte Französin ist?

Ich weiß es nicht. Auch war ich lange nicht mehr an der Seine. Apropos: Da meine Sitznachbarn nicht den Anschein erwecken, bald gehen zu wollen, entscheide ich mich für den Aufbruch. Ein kleiner Spaziergang an der Spree, der Seine von Berlin, soll mein beleidigtes Ästhetikempfinden zerstreuen. Meine Lust, mit Bus und Bahn zu fahren, hält sich in Grenzen. Bloß nicht noch mehr Dietmars und Sandras. Ich setze mich in mein Auto, höre einen flotten deutschsprachigen Sommerhit, der flugs meine leicht eingetrübte Wochenend-Laune aufhellt. Ich finde auch schnell einen Parkplatz. Es läuft. Der Fluß teilt sich in zwei Arme um die mit prachtvollen Gebäuden verzierte Museumsinsel. Am Ufer werfen duftende Bäume ihre Schatten. Das Wasser riecht nach Sommer. Was für ein Tag!

In Sandalen mit weißen Strümpfen bis zur Wade

Auf der Promenade kommt mir ein Pärchen entgegen – offensichtlich Touristen. Er im Hawaiihemd und Boxershorts, die auch für Badeausflüge beliebt sind. Darunter Sandalen und bis auf die Waden hochgezogene weiße Strümpfe. Kann ihm seine Begleiterin nicht sagen, daß er sich so höchstens auf die eigene Terrasse setzen kann?

Ihr Outfit gibt die Antwort. Sie trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck des „Hardrock-Café“, dazu eine „Hotpants“, und darunter eine Netzstrumpfhose, die sie bis an den Bauchnabel gezogen hat. Die Handtasche der Marke „Michael Kors“ soll Eleganz vortäuschen, doch im Gesamtbild wirkt das Accessoire wie gewollt und nicht gekonnt. Kurz darauf lassen sich die beiden im Garten eines teuren Restaurants nieder und ziehen die Augen der wenigen stilsicher gekleideten Gäste auf sich. Ich erkenne mich in diesen irritiert blickenden Menschen als der Biergartenbesucher von vor einer Stunde wieder.

Etwas desillusioniert schlendere ich weiter. An einer Kreuzung liegt ein Reisebüro. Ich beschließe, mich nach einer Paris-Reise zu erkundigen. Vielleicht hat der gute Heine ja recht gehabt. Sein Gedicht ist zwar knapp 175 Jahre alt, aber manche Dinge ändern sich möglicherweise nie.