© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Bismarcks Werk wird 150
Die Gründung des Norddeutschen Bundes nahm wesentliche staatsrechtliche Strukturen des Kaiserreiches und seiner Nachfolgestaaten vorweg
Hans-Otto Schulze

Der Staat, der sich seit fast siebzig Jahren „Bundesrepublik Deutschland“ nennt, besteht am 1. Juli 2017 eigentlich seit 150 Jahren! Er ist nicht, wie heute die Mehrzahl glaubt, mit der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871, erst recht nicht mit der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai oder dem ersten Zusammentritt des auf seiner Grundlage gewählten Bundestages am 7. September 1949 begründet worden; auch die Wiedervereinigung des nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten geteilten deutschen Restbestands am 3. Oktober 1990 hat nicht einen neuen Staat hervor-gebracht.

Vielmehr ist unser heutiger deutscher Staat staats- und völkerrechtlich identisch mit jenem „ewigen Bund“, den Preußen nach dem 1866 errungenen Sieg über Österreich (der zugleich das Ende des auf dem Wiener Kongreß 1815 geschaffenen „Deutschen Bundes“ bedeutete) im folgenden Jahr mit seinen Verbündeten „zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“ unter dem Namen „Norddeutscher Bund“ geschlossen hatte. Dazu gehörten ein Großteil der mit Österreich verbündet gewesenen deutschen Klein- und Mittelstaaten sowie die neutral gebliebenen.

Die weitgehend von Bismarck entworfene Verfassung vom 25. Juni 1867 ist am 1. Juli 1867 in Kraft getreten. Die  Souveräne der einzelnen Staaten ließen diesen vom verfassunggebenden Reichstag, der mit ihren jeweiligen Volksvertretungen beschickt wurde, absegnen. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes blieb – nach dem in ihrem Artikel 79 offengehaltenen Beitritt der süddeutschen Staaten im Laufe des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 und ihrer Verkündung als Reichsverfassung am 16. April 1871 im Kern unverändert – bis zum Zusammenbruch des Jahres 1918, also ein gutes halbes Jahrhundert, in Kraft. Einige nicht unwesentliche Merkmale dieser Verfassung überlebten sogar in der Weimarer Verfassung und später im Bonner Grundgesetz.

Ungebrochener staatlicher Kontinuität über 150 Jahre hinweg können sich freilich nur die nördlich des Mains gelegenen Teile des Gebiets der „alten“ Bundesrepublik zuzüglich der vormals preußisch und oldenburgischen Teile Birkenfeld im heutigen Rheinland-Pfalz und den „Hohenzollernschen Lande“ (die Kreise Hechingen und Sigmaringen in Baden-Württemberg) und abzüglich der Insel Helgoland beanspruchen. Bayern (einschließlich des früheren linksrheinischen Landesteils), die staatlichen Vorgänger Baden-Württembergs mit Ausnahme der „Hohenzollernschen Lande“ und Hessen südlich des Mains sind erst zum 1. Januar 1871 dem Bunde beigetreten, der fortan den Namen „Deutsches Reich“ und dessen erblicher Präsident – der König von Preußen – jetzt den Namen „Deutscher Kaiser“ führte.

In den „neuen“ Bundesländern, die bzw. deren Rechtsvorgänger sämtlich dem Norddeutschen Bund angehört haben, ist die Kontinuität zwischen 1949, dem Gründungsjahr der DDR, die sich im Gegensatz zur „alten“ Bundesrepublik nicht als mit dem Deutschen Reich teilidentisch verstanden hatte, und 1990, dem Jahr ihres Beitritts zur Bundesrepublik und damit verbundenen staatsrechtlichen Untergangs, unterbrochen.

Keine Kontinuität nur in Ost- und Mitteldeutschland

Nach jedem der beiden Weltkriege war auch das Saarland – als Bestandteil Preußens „Gründungsmitglied“ des Norddeutschen Bundes – für jeweils etwa 15 Jahre vom Mutterland abgetrennt; während dabei beim ersten Mal die staatliche Zugehörigkeit zum Deutschen Reich unbestritten erhalten blieb, erhielt das Land nach dem Zweiten Weltkrieg von Frankreich einen eigenen, von der Bundesrepublik nie anerkannten staatsähnlichen Status, bis es nach einer Volksabstimmung 1957 in den Bundesverband zurückkehrte. Der zweifelhafte Status der geteilten und bis zur Wiedervereinigung von den Siegermächten besetzten Hauptstadt Berlin ist schon 1958 durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: „Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland“ geklärt worden.

Die preußischen und sächsischen Gebietsteile des Norddeutschen Bundes östlich von Oder und Neiße sind – die preußischen zu einem beträchtlichen Teil schon nach dem Ersten Weltkrieg – an Polen, Litauen, die Sowjetunion und an die Tschechoslowakei („Hultschiner Ländchen“) gefallen. Eupen und Malmédy, ebenso wie Nordschleswig als Teile Preußens zum Norddeutschen Bund gehörig, sind 1919 abgetreten worden, Nordschleswig gelangte nach einer Abstimmung in Schleswig 1921 an Dänemark.

Frankreich mußte Elsaß-Lothringen, das es im 17. Jahrhundert in Besitz genommen hatte, im Frieden von Frankfurt vom 12. Mai 1871 wieder herausgeben. Das „Reichsland“ gelangte durch den Versailler Vertrag erneut an Frankreich und war dann nur noch von 1940 bis 1945 Teil des Deutschen – des „Großdeutschen“ – Reichs. Die im Wiener Kongreß England zugesprochene Insel Helgoland ist erst 1890 durch den Helgoland-Sansibar-Vertrag wieder zum Deutschen Reich gekommen.

Der Wechsel der Verfassung war jedesmal durch eine tiefgreifende staatliche Umwälzung ausgelöst. Der damit einhergehende Wechsel der staatlichen Symbole des Bundes (Flagge, Wappen und Hymne) vollzog sich nicht mit gleicher Stringenz, am augenfälligsten aber in der Flagge.

Während sich die Verfassung des Norddeutschen Bundes (und die des Deutschen Reiches vom 16. April 1871) in Artikel 55 darauf beschränkt hatte, die Flagge der Kriegs- und Handelsmarine mit Schwarz-Weiß-Rot festzulegen (zur Nationalflagge wurden diese Farben offiziell erst in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts erklärt), bestimmte die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 gleich eingangs in Artikel 5 die Reichsfarben mit Schwarz-Rot-Gold, den Farben der Revolution von 1848. Über den zweiten Satz dieses Verfassungsartikels („Die Handelsflagge ist Schwarz-Weiß-Rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke“) gab es nach dem Amtsantritt des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der 1926 angeordnet hatte, daß die deutschen Konsulate in ausländischen Hafenstädten neben der Reichsdienstflagge die Handelsflagge zu setzen hätten, innenpolitischen Verdruß, der den Reichskanzler Hans Luther 1926 das Amt kostete. In der Zeit des Nationalsozialismus war nach kurzem Schwarz-Weiß-Rotem Zwischenspiel die aus diesen Farben zusammengesetzte Hakenkreuzfahne deutsche National- und Handelsflagge.
 
Die Bundesrepublik und die DDR übernahmen 1949 wiederum Schwarz-Rot-Gold, wobei letztere, um sich von der westdeutschen Bundesrepublik zu unterscheiden, im Jahre 1959 die Aufnahme ihres Staatswappens (Hammer und Zirkel) in die Staatsflagge verfügte. Bundesdeutsche Schiffe führten Schwarz-Rot-Gold erst wieder ab 1952; davor hatten auf Anordnung der Besatzungsmächte alle deutschen Schiffe die Flagge „C“ (für „Capitulation“) des Internationalen Signalbuchs für die Seeschiffahrt zu führen.

Deutsches Wappen ist seit den Tagen Karls des Großen der Reichsadler. Daran hat sich trotz aller Wechselfälle der Geschichte im Wesentlichen nichts geändert. Der bis zum Ende des Deutschen Bundes doppelköpfige Wappenvogel hatte zwar im Deutschen Kaiserreich einen Kopf und in der Republik auch die über dem verbliebenen Kopfe schwebende Kaiserkrone eingebüßt, wurde aber weiter nicht angetastet. Selbst im „Dritten Reich“ hatte der Adler Bestand, wo er mit waagrecht abgespreizten Schwingen und einem Eichenkranz mit eingeschlossenem Hakenkreuz in den Fängen dargestellt war.

Grundlagen unseres föderalen Staatsaufbaus

Was ist nun – außer der Identität des Völkerrechtssubjekts – von den staats-rechtlichen Grundsätzen der Verfassung von 1867/71 geblieben? Zunächst einmal die Grundlagen unseres föderalistischen Staatsaufbaus: der Bundesstaat als Zusammenschluß seiner Mitgliedstaaten unter Aufrechterhaltung von deren Eigenstaatlichkeit. Die hieraus erwachsende starke Stellung, die dem Bundesrat (der Ländervertretung auch nach der Verfassung des Norddeutschen Bundes) als oberstem Exekutivorgan zukam, ist freilich schon in der Weimarer Verfassung zugunsten des Reichstages, der das Volk repräsentiert, von dem nach heutiger Auffassung alle Staatsgewalt ausgeht, in die Rolle einer „Zweiten Kammer“ zurückgedrängt worden; die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Ge-setzgebung ist allerdings nach Artikel 79 Abs. 5 GG unabdingbar.

Geblieben – und später in manche Landesverfassungen (nicht die preußische!) übernommen worden – ist das freie, gleiche und geheime Wahlrecht, nach dem seit 1867 der Reichstag/Bundestag gewählt wird, seit 1919 auch von Frauen. Erhalten und in einem vor 150 Jahren kaum vorstellbaren Maß ausgestaltet worden sind vor allem die Staatsziele „Rechtsstaat“ und „Sozialstaat“.

Die Grund- oder Menschenrechte sind in der Verfassung von 1867/71 nicht explizit behandelt worden. Allerdings galten diese durch die Verfassungen der meisten Bundesstaaten (etwa der preußischen von 1850) jedenfalls für die eigenen Landeskinder – nicht selten mit denselben Worten wie im Grundgesetz. Die volle Parlamentsherrschaft freilich war nicht durchgesetzt; wer das an der Verfassung von 1867 kritisieren will, mag sich das Machtverhältnis zwischen dem Europaparlament und der EU-Exekutive vergleichend vor Augen führen.

Bismarck, dessen staatsmännisches Werk schwersten Zeiten standgehalten hat und nach der Wiedervereinigung wieder in eine neue, verantwortungsvolle Rolle innerhalb der Europäischen Union hineingewachsen ist, verdient es, wieder gewürdigt zu werden.