© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Wie ein Seepferdchen in einem Rennstall
Martin Luther: Die Glaubenshaltung des großen Reformators ist der heutigen evangelischen Kirche fremd
Sebastian Hennig

Die Reformationsdekade der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) erreicht in diesem Oktober mit dem Jubiläum des Thesenanschlags von Martin Luther ihren krönenden Abschluß. Am Vorabend von Allerheiligen hat der Augustinermönch Martin Luther 1517 seine Einwände gegen den Handel der römischen Papstkirche mit dem Gewissen der Gläubigen öffentlich gemacht. Das Mißverhältnis der heutigen Kirchenfunktionäre zum religiösen Rigorismus ihres Stifters hat Jürgen Kaube schon zum Beginn des Jubiläumsjahrs am 31. Oktober in der FAZ zutreffend beschrieben, als einen „Fall von Produktpiraterie. Man verkauft, und zwar seit dem Jahr 2008 gleich eine ganze ‘Lutherdekade’ lang, das Gedenken an die Reformation (…) Aber die eigene Gesinnung ist von Luthers Ideengut und Temperament so weit entfernt wie nur irgend denkbar. Es steht ‘Luther’ drauf, aber es ist kein Luther drin.“

Tatsächlich ist Luthers Glaubenshaltung in der nach ihm benannten Landeskirche ungefähr so am Platze, wie ein Seepferdchen in einem Rennstall. Das Vielseitigkeitsrennen der Kirchenfunktionäre absolviert nahezu jede Disziplin mit Bravour, außer den ursprünglichen der Seelsorge und der Spendung der Sakramente.

Goethe hat einmal gemeint, fünfzig Jahre nach dem Tod eines Mannes, wenn der letzte Zeuge dahingegangen ist, der direkt mit ihm zu tun hatte, wird der Betreffende entweder vergessen oder er lebt im Mythos weiter, der sich um ihn herausbildet. Eine neue Idee benötigt eine spannende Erzählung, damit sie sich ausbreitet und einprägt. Vieles spricht dafür, daß Martin Luther seine 95 Thesen nur dem Kurfürsten von Mainz zugesandt hat, der für den Papst den Ablaßhandel in den deutschen Ländern vollstreckte. Doch Bilder und Legenden überliefern der Nachwelt eine tiefere Wahrheit, als es Urkunden und Chroniken vermögen.
Auch wenn Luther seine Thesen nicht mit dem Hammer an die Türe der Wittenberger Schloßkirche genagelt haben sollte, ändert das nichts daran, daß sie sich wie Donnerhall verbreiteten. Als der Beichtvater des Kaisers Luthers Schrift gegen die babylonische Herrschaft der Kirche las, war ihm, „als hätte ihn einer mit einer Peitsche vom Kopf bis zu den Füßen gespalten“. Die Gewissensnot eines Einzelnen brachte ein ganzes Unrechtssystem ins Wanken. Denn der Augustinermönch sprach nur aus, was viele längst gedacht hatten.

Die deutschen Fürsten wiesen die Anmaßungen des Papstes zurück und verlangten eine Untersuchung des Falls. Luther wurde zum Reichstag nach Worms bestellt. Als er auf das Schicksal des böhmischen Reformators Jan Hus verwiesen wurde, der ein Jahrhundert zuvor auf dem Konzil in Konstanz verbrannt worden war, erwiderte er: „Und wenn sie gleich ein Feuer machten, das zwischen Wittenberg und Worms bis gen Himmel reichte, so wollte ich doch im Namen des Herrn erscheinen und Christum bekennen, und denselbigen walten lassen.“

Marketing-Expertenin die Hände gefallen

Vor dem Kaiser, dreißig Bischöfen, Hunderten von  weiteren Regenten und einer tausendköpfigen Volksmenge hatte er seine Veröffentlichungen zu rechtfertigen. Nach einem Tag Bedenkzeit räumte er ein, in manchen Formulierungen zwar etwas heftig gewesen zu sein, aber prinzipiell zu seinen Aussagen zu stehen. Könne man ihn jedoch aus den Grundsätzen des christlichen Glaubens heraus widerlegen, dann wäre er bereit, seine Schriften eigenhändig dem Feuer zu überantworten.

Unter den Fürsten fand er weithin Zuspruch, gleichwohl wurde er vom Kaiser in Acht und Bann getan. Der fromme Karl V. widersetzte sich jedoch dem Ansinnen der Vertreter der römischen Kurie, Luther gleich festzusetzen. Auf dem Heimweg wurde er dann von Leuten des sächsischen Kurfürsten Friedrich dem Weisen entführt und in ein sicheres Asyl auf die Wartburg bei Eisenach gebracht.

Eisenach ist neben Wittenberg und Berlin einer der drei Schauplätze der diesjährigen Nationalausstellung zum Reformationsjubiläum. Die Großplakate dafür zeigen ein gelbes Hammersymbol vor blauem Grund, was eher an eine Kampagne der deutschen Handwerkskammer denken läßt, als an „die volle Wucht der Reformation“. Luther ist offenbar damals nur den Häschern der päpstlichen Kurie entkommen, um fünfhundert Jahre danach den von der EKD beauftragten Marketing-Experten in die Hände zu fallen.

Auf der offiziellen Netzseite der Reformationsfeierlichkeiten ist als erstes ein Klecks zu sehen, aus dem die Zahl 2017 ausgespart ist. Das spielt auf eine Legende an: Als der Satan ihn an der Bibelübertragung zu hindern versuchte, nahm der fromme Philologe sein Tintenfaß, um es dem Verderber entgegenzuschleudern. Eine deutliche Spur ist an der Wand der Lutherstube auf der Wartburg davon geblieben. Der Teufel steckt im Detail. Daß nämlich ausgerechnet die Jahreszahl des Jubiläums im Tintenfleck eine Leerstelle bezeichnet, legt nach allen Regeln der Logik und der visuellen Kommunikation nahe, daß Luthers zorniger Exorzismus 2017 nicht mehr wirkt. An der Beliebigkeit der heutigen Kirche perlt die Tinte frommer Denkungsart ab.

Dabei hat Luther an Hölle und Teufel mit ebensolcher Inbrunst geglaubt wie an den gnädigen Gott und an Christus. Während die damaligen Kirchenfunktionäre, wie die heutigen, diese Glaubensbereitschaft als Instrument zur Leitung der Gemeinde mißbrauchten. Der Reformator hat die verweltlichte Papstkirche in Rom als eine „Synagoge Satans“ geschmäht. Lebte er noch, würde er diesen harschen Vorwurf ohne Zweifel gegen seine eigene Kirche kehren. Vom Luthertum ist im 500. Jahr nach der Reformation eine Ansammlung von Museumsexponaten und Sehenswürdigkeiten geblieben, die gegen Eintrittsgeld durch eine irdische Heerschar von geschulten „Lutherfindern“ vorgeführt werden.

„Kollaboration mit dem Staat“

Scharfe Kritik meldet sich unterdessen aus den eigenen Reihen. Der 1986 geborene Theologe Benjamin Hasselhorn kuratiert nicht nur die Wittenberger Ausstellung zum Reformationsjubiläum. Er fragt auch in einem jüngst erschienenen Buch, ob „Das Ende des Luthertums?“ gekommen sei. Er meint: „Die als lutherisch verkaufte Botschaft ‘Du bist gut, so wie du bist’ ist im besten Fall banal, im schlimmsten Fall gefährlich (…) Einer jüngeren Generation, die im Mittel sehr ordentlich mit Selbstbewußtsein ausgestattet ist, erscheint eine solche Botschaft trivial. Aber auch die weniger Selbstbewußten und diejenigen, die in existentielle Krisen geraten, dürften den Eindruck gewinnen, daß eine solche simple Botschaft an der Realität mit ihrer Kompliziertheit vorbeigeht.“

Als die vier Grundprinzipien des Luthertums stellt Hasselhorn heraus: Gottvertrauen, Hoffnung auf Gnade, Gewissensernst und Bekenntnismut. Hasselhorn untersucht genau die Abwege, auf welche die Kirche geraten ist. Das vernichtende Fazit: „... die Kollaboration mit dem Staat (…) hat dem Luthertum schließlich den entscheidenden Stoß versetzt. Ob es sich davon noch einmal erholen wird, ist ungewiß.“

Das Innewerden der Krankheit ist der erste Schritt auf dem Wege zur Heilung. Der Parafiskus „Evangelische Kirche in Deutschland“, als Staat im Staate ohne Territorium, ist an sich ein Unding und nur aus dem politischen Kalkül der Siegermächte erklärbar. Hasselhorn erinnert an die erste Handlung dieser EKD, vom Oktober 1945. „Das Zustandekommen der Stuttgarter Schulderklärung liest sich wie ein Krimi: Der Bischof von Chichester und Kritiker einer nur von deutscher Seite erklärten Schuld, George Bell, wurde durch Fehlinformationen von der entscheidenden Sitzung ferngehalten (…). Willem Visser ’t Hooft, Generalsekretär des Ökomenischen Rates der Kirchen, verfolgte als Agent des OSS, einer Vorläuferorganisation der CIA, das Ziel, die Schulderklärung verabschieden zu lassen.“

Unter Protesten im In- und Ausland erhielt damit die alliierte These von der Kollektivschuld der Deutschen eine sakrosankte Festlegung. „Der Vorsitzende der SPD, Kurt Schumacher, verdächtigte diejenigen, die öffentlich von deutscher Schuld sprachen, sie wollten bloß die eigenen Verfehlungen auf den Rest des Volkes übertragen.“ Hasselhorn sieht darin nur den ersten Schritt auf einem Irrweg: „Von der Stuttgarter Schulderklärung über die ‘Ostdenkschrift’ 1965 (…) bis hin zum Familienpapier 2013, (…) setzte sich eine bestimmte Tendenz immer weiter fort, und diese besteht darin, Religion eng mit Politik zu verknüpfen und Glaube eng mit Moral.“

Dabei ist die Leistung und das Beispiel Martin Luther längst nicht nur das Eigentum der erklärten evangelischen Christen. Der Dramatiker des „Sturm und Drang“ Friedrich Maximilian Klinger (1752–1831) formulierte die Mahnung: „Meinen Landsleuten, die es vergessen haben – (Wohltaten muß man Menschen ins Gedächtnis rufen, unter dem Genuß derselben vergessen sie ihren Urheber, wenn sie sich nicht selbst dazu machen) rufe ich aus weiter Ferne zu: Was ihr Seyd – seyn dürft, oder was man euch zu seyn erlauben muß – dankt ihr Luthern!“

Dieser Dankespflicht war man sich zuletzt sogar in der DDR bewußt. Zum Lutherjubiläum im Oktober 1983 wurde der fünfteilige Fernsehfilm „Martin Luther“ausgestrahlt. Der leidenschaftliche und vitale Reformator in der Gestalt des Schauspielers Ulrich Thein ähnelt dem Luther im unlängst in der JF-Edition erschienenen Buch von Karlheinz Weißmann „Prophet der Deutschen –Martin Luther für junge Leser“. Der ukrainische Illustrator Sascha Lunyakov zeigt darin einen tonsurierten Mönch, der sich mit dem Establishment anlegt. Der wackere Mann hat den Hammer fest in der Faust. Der große Beter war auch ein großer Flucher.


Karlheinz Weißmann: Prophet der Deutschen – Martin Luther für junge Leser. JF-Edition, Berlin 2017, gebunden, 172 Seiten, durchg. farb. illustriert, 24,90 Euro