© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Pankraz,
Luigi Pirandello und die Verdoppelung

Bin ich ich? Oder spiele ich mich nur, genauer: werde nur gespielt von den Kräften eines amonymen  Theaterbetriebs? Gewinne ich einzig Lebenskraft und Existenz als Rolle in einem Bühnenstück, das andere geschrieben haben und inszenieren?

Das war die Frage, die Luigi  Pirandello sein Leben lang umtrieb, den großen italienischen Dichter und Gelehrten, dessen 150. Geburtstag am 28. Juni ansteht. Nicht nur das sizilianische Agrigent, das Akragas der alten Griechen, wo er geboren wurde, wird ihn feiern und nicht nur das große Rom, wo er im Dezember 1936 verstarb, sondern auch die deutsche Universitätsstadt Bonn, wo er studierte, promovierte und bis 1892 als Lektor am Romanischen Seminar der Universität arbeitete. Dort ist heute eine Straße nach ihm benannt, und Gedenktafeln in der Uni und an seinem damaligen Wohnhaus erinnern an ihn.

Pirandello war Professor für italienische Literaturgeschichte in Rom und früh berühmt als Verfasser höchst subtiler, hyperrealistischer Novellen aus dem Alltagsleben. Doch im Jahr 1922 ergriff ihn plötzlich die Theaterlust, er ließ den Lehrstuhl Lehrstuhl sein, gründete eine Schauspielertruppe – und schrieb und inszenierte das Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“. Die Aufführung war ein ungeheurer Erfolg und ein ungeheurer Skandal, das Publikum rollte sich vor Lachen und schrie gleichzeitig laut auf vor Zorn.

Ganz Rom sprach monatelang von nichts anderem als von Pirandello und seinem Stück, obwohl doch zur gleichen Zeit König Victor Emanuel III. Benito Mussolini nach dessen sogenanntem „Marsch auf Rom“ an die Spitze eines Koalitionskabinetts aus Mussolini-Anhängern, Katholiken, Konservativen und Liberalen berief und so die Ära des Faschismus ihren Anfang nahm. Pirandello schickte 1924 Mussolini ein begeistertes Telegramm, in dem er um die Aufnahme in die faschistische Partei bat, der er dann zeitlebens verbunden blieb.

Sein Stück aber wühlte die Welt, zumindest die Welt der Intellektuellen und der Medien, regelrecht auf. Pirandello ging mit ihm auf internationale Tournee, und wo er auch hinkam, überall gab es die gleichen leidenschaftlichen Reaktionen wie in Rom, unendliches Gelächter, erbitterten Widerspruch. Bert Brecht entwickelte – erkennbar gegen Pirandello – sein „Episches Theater“, ein Theater des Kühlbleibens und des erhobenen Zeigefingers. Die Schauspieler dort treten aus ihrer Rolle ausdrücklich heraus, markieren schier überdeutlich die Differenz zwischen Ich und Rolle.

In Pirandellos Stück geht es genau andersherum. Es handelt von einer realen, wegen banaler Dinge zerstrittenen Alltagsfamilie, die in die laufenden Proben eines Theaters gewaltsam einbricht und den Theaterdirektor auffordert, jetzt sofort ihre, der Familie, eigenen Probleme auf die Bühne zu heben, sie ohne Abzug oder Zutat gleichsam zu verdoppeln, sie zu „medialisieren“, wie wir heute sagen würden. Der Direktor läßt sich schließlich breitschlagen, er probt und medialisiert, und die (erwachsenen) Familienmitglieder bleiben anwesend und quatschen dauernd dazwischen.

Ein tragikomisches Tohuwabohu entsteht, ein „Theater der Grausamkeit“, wie es später der französische Pirandello-Schüler Antonin Artaud genannt hat. Die Schauspieler dürfen nicht mehr sie selbst sein, dürfen nicht mehr ihre mimischen Qualitäten entfalten, sondern sollen genau das verdoppeln, was ihnen realiter entgegentritt. Andererseits fühlen sich die Familienmitglieder durch die Darstellungskunst der Schauspieler in ihrem Innersten getroffen, sehen die Verdoppeler als Feinde und möchten sie am liebsten auffressen.
Und das Publikum im Zuschauerraum fühlte sich bei den  Aufführungen der Pirandello-Truppe nicht minder bedroht und bis auf den Grund entlarvt; deshalb das Wutgeschrei und die geballten Fäuste. In den folgenden Jahrzehnten ließ das etwas nach. 1934 erhielt Pirandello den Nobelpreis für Literatur zugesprochen, zwei Jahre später starb er, und nach dem Zweiten Weltkrieg war der Zeitgeist hierzulande wenig geneigt, ausgerechnet das Werk eines „Faschisten“ zum Thema des „öffentlichen Diskurses“ zu machen. Klaus Michael Grübers brillante  Inszenierung in den sechziger Jahren in Berlin blieb die große Ausnahme.

Dann aber kam das Internet und verschärfte das Problem gewaltig. Fortan konnte sich nun jeder selbst verdoppeln, er brauchte keine Schauspieler mehr, er war sein eigener Medialisierer geworden und trug dazu bei, die Medialität zu banalisieren oder – immer häufiger – ins direkt Primitive zu wenden. Aus den einstigen Zeigefinger-Profis à la Brecht wurden „Menschen wie du und ich“, die, statt der Form zu huldigen und zum Sich-Mühe-Geben aufzufordern, sich nur noch mit medialen Titeln schmücken, um so ihrer Doppel-Zugehörigkeit Ausdruck zu geben.

Man schaue sich die offiziellen Berufsangaben der Teilnehmer an einer beliebigen Talkshow von heute an, zum Beispiel die des Norddeutschen Rundfunks (NDR) von voriger Woche. Programmheft NDR: „Frank Plasberg, Moderator; Wolfgang Trepper, Komiker; Daniela Katzenberger, Reality-Star; Sebastian Lege, Food-Experte; Anne Gesthuysen, Moderatorin; Heinrich Bedford-Strohm, Bischof.“ Der Bischof Bedford-Strohm paßte sich dann während der Sendung nahtlos in den Gang der Show ein. Auch er war nur ein „Medienvertreter“, der gut gelaunt über seine persönlichen kleinen Sorgen Auskunft gab.

In dem Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“ gehören übrigens auch zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, zu der ins Theater einbrechenden und mediale Verdoppelung begehrenden Familie. Sie bleiben die ganze Handlung über stumm und erleiden am Ende einen elenden Tod. Pirandello schrieb dazu in einer der Aufführung beigegebenen Vorrede: „Kunst und Leben sind nicht dasselbe. Alles, was lebt, hat Form durch die Tatsache, daß es lebt, und ebendeshalb muß es sterben; mit der Ausnahme des Kunstwerks, das genau darum ewig lebt, weil es Form ist.“