© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Viele Versprechen, wenig Erfahrung
Frankreich: Nach dem Erdrutschsieg wartet eine Herkulesaufgabe auf Macron
Friedrich-Thorsten Müller

Wie alle fünf Jahre hat Frankreich einen im weltweiten Maßstab beispiellosen Wahlmarathon hinter sich gebracht. In nur zwei Monaten mußte das Land vier Wahlsonntage bewältigen, um einen Präsidenten und nun auch ein neues Parlament zu wählen. In der Stichwahl zur Nationalversammlung am Sonntag waren es zuletzt gerade noch 42,6 Prozent der Wahlberechtigten, die den Weg zu den Wahlurnen antraten, im Vergleich zu immerhin 55,4 Prozent vor fünf Jahren.

Erwartungsgemäß konnte Präsident Emmanuel Macron, der neue Shootingstar der französischen Politik, die Wahl mit einer satten Mehrheit für sich entscheiden. 49,1 Prozent der Franzosen stimmten für einen Kandidaten von „La République en Marche“ (REM), oder deren Verbündeten vom Mouvement démocrate. Dank des Mehrheitswahlrechts werden 350 der 577 Abgeordneten, das heißt 60,6 Prozent, zur „Präsidentenmehrheit“ gehören. Für die konservativen „Republikaner“ stimmten 27 Prozent, während auf die vormals regierenden Sozialisten 7,5 Prozent der Stimmen entfielen. Mit zusammen kaum mehr als einem Drittel der Stimmen sowie 112 und 29 Abgeordneten werden die zwei bisher in Frankreich dominierenden politischen Lager somit nicht einmal mehr ein Viertel der Abgeordneten stellen. Bisher entfielen allein auf die Sozialisten 295 Sitze.

Der Front National erreichte 8,8 Prozent der Stimmen mit allerdings nur acht Abgeordneten, wodurch er den Fraktionsstatus, der 15 Abgeordnete erfordert, klar verfehlte. Bei ihrer ersten Pressekonferenz nach der Wahl stellte die FN-Vorsitzende Marine Le Pen darum erneut massiv das Mehrheitswahlrecht in Frankreich in Frage. Dieses sei auch für die stark steigende Zahl der Nichtwähler im Lande verantwortlich, die sich „weder auf dem Stimmzettel noch im Parlament“ vertreten sehen würden.

Dennoch ist das Resultat für den Front National im Verhältnis zur Wahl 2012 weit besser, als es das Prozentergebnis der Stichwahl vermuten ließe. Im Vergleich zu vor fünf Jahren konnte der FN die Zahl seiner Stichwahlteilnahmen von 61 auf 120 fast verdoppeln. Auch die hohe Zahl der Wahlkreise, wo die Partei am Sonntag über 40 Prozent erreichte und teilweise nur knapp geschlagen wurde, zeigt, daß der endgültige Durchbruch zur Regierungspartei – sollte Macron scheitern – nicht illusorisch ist. Um dieses Ziel zu erreichen, kündigte  Le Pen nicht weniger als die Neugründung des Front National an. Sicher wird ihr dabei helfen, daß sie – im Gegensatz zu ihrem Stellvertreter und Widersacher Florian Phillipot – ihren Wahlkreis mit 58,6 Prozent der Stimmen gewann.

Geschickte Vermengung linker und rechter Politik

Eines der herausragendsten Ergebnisse des politischen Erdbebens, das hinter Frankreich liegt, ist die hohe Zahl parlamentarisch unerfahrener Abgeordneter. Nur 140 der 577 Parlamentarier gehörten bereits der vorherigen Nationalversammlung an. Unter ihnen auch der Gaullist Nicolas Dupont-Aignan, der trotz seiner Präsidentenstichwahl-Unterstützng für Marine Le Pen im Département Essonne wiedergewählt wurde. 424 Abgeordnete – vor allem der Präsidentenmehrheit – saßen dagegen noch nie in einem Parlament. Und mehr als die Hälfte der REM-Abgeordneten können noch nicht einmal Gemeinderatserfahrung vorweisen.

Vor Präsident Macron liegt nun nach eigenem Bekunden die Herkulesaufgabe, zu verhindern, daß aus einer „Fraktion von Individualisten“ ein „Sauhaufen“ wird. Denn wenn der 39jährige seine Ankündigungen in Politik umsetzen will, kommt auf das Land eine wahre Flut neuer Gesetze zu. Dabei ist absehbar, daß sich nicht nur bei den angestrebten Änderungen im Arbeitsrecht sehr schnell eine lautstarke außerparlamentarische Opposition organisieren wird, deren Druck politisch Unerfahrene erst einmal standhalten müssen.

Premierminister Édouard Philippe hat den Auftrag, für die neue Legislaturperiode ein 50 Milliarden-Euro-Konjunkturprogramm auf den Weg zu bringen. Eine Million Wohnungen sollen damit zum Beispiel isoliert, alte Autos mit einer 1.000-Euro-Abwrackprämie stillgelegt und 80.000 Wohnungen für junge Leute und 15.000 Gefängnisplätze neu geschaffen werden.

Darüber hinaus sollen 10.000 zusätzliche Polizisten eingestellt und der Verteidigungshaushalt auf die von Donald Trump geforderten 2,0 Prozent des Bruttoinlandproduktes angehoben werden. Das Renteneintrittsalter bleibt dagegen unangetastet und die Mindest-rente und das Mindesteinkommen sollen gar um 100 Euro pro Monat steigen.

Letzteres durch staatlichen Sozialabgabenverzicht, während Zahnersatz und Brillen künftig wieder zu den Kassenleistungen gehören sollen. Weil das an Segnungen und Ausgaben noch nicht reicht, werden laut Ankündigung 80 Prozent der Franzosen künftig auch keine Wohnungssteuer mehr bezahlen. Es ist kaum vorstellbar, daß der Abbau von 120.000 Beamtenstellen, ein liberalisierter Arbeitsmarkt und die geplante umsatzbezogene Besteuerung von ausländischen Internetkonzernen  für eine solide Gegenfinanzierung sorgen können.

Alles in allem ist das REM-Programm  eine geschickte Vermengung linker Umverteilungsideen und rechter Forderungen nach wirtschaftlicher Freiheit und Sicherheit, was den politischen Erdrutsch in Frankreich erklärt. Wirklich schmerzliche Einschnitte, die mit echten Reformen einhergehen, sind bisher allerdings nicht erkennbar.