© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

Abrichtung zur Mündigkeit
Der renommierte US-Historiker Timothy Snyder tritt als engagierter Volkspädagoge in Erscheinung
Siegfried Gerlich

Schon als Berater des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama hatte sich Timothy Snyder als entschiedener Gegner der republikanischen Partei und insbesondere der Tea Party zu erkennen gegeben, aber erst das Auftreten Donald Trumps in der weltpolitischen Arena trieb ihn regelrecht auf die Barrikaden. Unmittelbar nach dessen Wahlsieg publizierte der in Yale lehrende Osteuropaexperte und Holocaustforscher einen suggestiv mit „Him“ betitelten Artikel, der den Leser glauben ließ, es handele sich bei „ihm“ um Trump, bis sich am Ende herausstellte, daß wieder einmal von Hitler die Rede war. 

Eine erweiterte Version dieses alarmistischen Kurzschlusses legt Snyder nun mit einer Brandschrift vor, in der er seine Landsleute mit uramerikanischem Pathos auf einen „Kampf gegen die Tyrannei“ einzuschwören sucht, der „lange dauern“ und „Opfer“ fordern werde. Allerdings feuert der Autor mit diesen bewaffneten Worten, die frontal auf den US-Präsidenten zielen, zugleich eine Breitseite ab, die auch die populistischen Bewegungen und autoritären Regierungen Europas treffen soll, denn immerhin hinterließ die Alte Welt mit dem Faschismus ein „intaktes geistiges Vermächtnis, das heute mit jedem Tag an Relevanz gewinnt“. 

„Achte auf die Hakenkreuze und die anderen Zeichen des Hasses!“ So lautet eine von zwanzig mit Ausrufezeichen versehenen volkspädagogischen „Lektionen“, in denen Snyder seinem „Widerstand“ gegen die antiliberale Tendenzwende in der westlichen Welt eine wohlvertraute und beifallssichere Ausrichtung gibt. In seinen historischen Rückblenden auf die untergegangenen Demokratien der Zwischenkriegszeit zeigt sich zwar noch immer der „antitotalitäre“ Weitblick des vielgerühmten Autors der „Bloodlands“, der eindrucksvoll zu schildern wußte, wie weite Regionen Mittel- und Osteuropas im Zangengriff von Faschismus und Stalinismus zermalmt wurden. 

Die aktuellen Lagebeschreibungen indessen leiden spürbar unter der selektiv „antifaschistischen“ Blickverengung des umstrittenen Autors von „Black Earth“, der angesichts bevorstehender demographisch-ökologischer Weltkrisen ernsthaft befürchtet, daß Auschwitz sich wiederholen könne. 

Das Volk als eine Gefahr für die Freiheit des Einzelnen

Um vor diesem Hintergrund Trumps politisches Programm glaubhaft als „rechtsextrem“ stigmatisieren zu können, erwähnt Snyder sicherheitshalber gleich zweimal, daß dessen Parole „America first!“ ursprünglich der Name einer isolationistischen Organisation gewesen war, die den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten gegen das Deutsche Reich Hitlers verhindern wollte. Keinen Gedanken verschwendet er hingegen daran, wieviel von dem, was ihm am „Trumpismus“ bedrohlich erscheint, sich jenem älteren angloamerikanischen Geist eines selbstherrlichen Individualismus und skrupellosen Sozialdarwinismus verdankt. 

Allerdings steht hinter Snyders wie immer auch tendenziösen Zuschreibungen die in der Sache keineswegs unberechtigte Sorge um die zivile Zukunft seines Landes, dessen neue Regierung sich einen radikalen Abbau staatlicher Institutionen auf die Fahnen geschrieben hat. Und begreiflicherweise beunruhigt dies gerade Snyder, der in seinen vorangegangenen Büchern so überzeugend nachgewiesen hat, daß das institutionelle Chaos, in welches der als staatsfeindliche „Bewegung“ operierende Nationalsozialismus die von ihm eroberten Territorien hineinriß, eine elementare Voraussetzung für die dortige Organisation des Holocaust darstellte. 

Aber fraglos schießt er in vorliegendem Büchlein weit übers Ziel hinaus, wenn er auch Trumps „staatsfeindlichem Anarchismus“ solche faschistischen Konsequenzen prophezeit. Verständlich wird Snyders apokalyptischer Alarmismus wohl nur dadurch, daß er die erstmals von Christopher Browning erforschte, überraschend freiwillige Mitwirkung „ganz normaler Männer“ am Judenmord nunmehr im Lichte des von ihm herbeizitierten Milgram-Experiments betrachtet, dem zufolge in gesetzlosen Ausnahmesituationen nahezu alle Menschen zu allem fähig sind. 

So kommt hinter Snyders im Grunde konservativer Auffassung, daß nur stabile Institutionen den Menschen vor seinen mörderischen Abgründen schützen können, ein anthropologischer Pessimismus zum Vorschein, welcher freilich im Widerspruch zu jenem genuin amerikanischen Optimismus steht, dem bereits die bloße Existenz des Staates als Tyrannei aufstößt. Die aktuelle Gefährdung der Freiheit des Einzelnen sieht Snyder nämlich vom „Volk“ ausgehen, welches schon oft genug aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, gedankenlosem Mitläufertum oder vorauseilendem Gehorsam bellende Volkstribunen zu beißenden Tyrannen werden ließ. 

Daß das Aufkommen der populistischen Bewegungen unserer Tage jedoch maßgeblich dem neoliberalen Verfall nationaler Demokratien zu multinationalen Polit- und Wirtschafts-Oligarchien geschuldet ist, blendet er dabei ebenso aus wie die notorisch oligarchische Provenienz antipopulistischer Propaganda. Insofern ist Snyders Mobilisierung des demokratischen Widerstands gegen populistische Verführungen von einer grandiosen Einseitigkeit, und von performativer Selbstwidersprüchlichkeit zeugen vollends seine Appelle an den mündigen Bürger, die sich unversehens in dessen herablassende Belehrung verkehren, sobald dieser aus seinem politisch korrekten Schlummer erwacht und es wagt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. 

Es ist so bemerkenswert wie bedauerlich, daß die von den politisch-ökonomischen Funktionseliten des liberalen Westens allemal selbst vorangetriebenen Entdemokratisierungsprozesse ganz außerhalb des Gesichtskreises dieses klugen Historikers liegen. Denn wiewohl Snyder ausdrücklich vor der Einschränkung der Meinungsfreiheit, dem Verbot politisch unerwünschter Wörter, leichtfertigen Extremismus-Vorwürfen und einer „Politik der Unausweichlichkeit“ warnt, scheint er nicht im entferntesten zu ahnen, daß viele deutsche Leser hierbei unwillkürlich an den obrigkeitsstaatlichen Politikstil der amtierenden Bundesregierung denken dürften. Wer Snyder beim Wort nimmt, wird jedenfalls, was er seinerseits in populistischer Manier zur „Tyrannei“ dramatisiert, immer auch auf der Seite der von ihm verteidigten Mächte wiederfinden.

Timothy Snyder: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand. Verlag C. H. Beck, München 2017, broschiert, 127 Seiten, 10 Euro