© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

Angela Merkel und die Gefährlichkeit vermeintlich reiner Motive
Die Kunst des Möglichen
Erich Weede

Die realistische Schule ist die einzige Schule der internationalen Politik, deren Argumente in Washington, Moskau, Peking, London und Paris ernst genommen werden. Vor 20 Jahren debattierte man in den USA über Außenpolitik als Sozialarbeit. Anhänger der realistischen Schule der internationalen Beziehungen warfen schon damals der Politik vor, sich zuwenig an nationalen Interessen und zu stark an humanitären Erwägungen zu orientieren, dabei die Kosten militärischen Engagements zu unterschätzen und deshalb Amerika zu überlasten.

Realisten wird oft vorgeworfen, zur Militarisierung der Außenpolitik beizutragen. Den Anhängern dieses Vorwurfs sollte zweierlei zu denken geben. Erstens warnt niemand so vehement vor möglicherweise den Konflikt eskalierenden Reaktionen des Westens auf die russische Ukrainepolitik wie die amerikanischen Realisten. Das paßt nicht zu Kriegstreiberei und Militarismus. Zweitens haben Realisten amerikanische Militäreinsätze – von Vietnam über Afghanistan und den Irak bis Libyen – scharf kritisiert.

Daß dadurch in den genannten islamischen Ländern die Basis für politische Stabilität und bescheidenes Wirtschaftswachstum, gar für Demokratie und Menschenrechte, gelegt worden sei, kann niemand behaupten. Daß der Sieg der Kommunisten in Vietnam für Amerika eine dauerhafte Katastrophe war, wird durch die in den letzten Jahren immer besser werdenden Beziehungen zwischen den USA und Vietnam dementiert. Daß die amerikanischen Interventionen überall Blut und Dollars gekostet haben, ist unstrittig. Man darf auch bezweifeln, ob die von den Amerikanern militärisch durchgesetzte Absetzung der blutbefleckten Diktaturen in Kabul, Bagdad und Tripolis wenigstens die Überlebenschance von Afghanen, Irakern und Libyern erhöht hat. In der Hauszeitschrift von Amerikas Realisten, The National Interest, wurde deshalb vor Hillary Clinton mit dem Hinweis gewarnt, daß niemand so gefährlich sei wie eine Politikerin, die von der Reinheit ihrer Motive zutiefst überzeugt sei.

So eine Politikerin ist in Deutschland Bundeskanzlerin. Am Anfang ihrer Amtszeit war Angela Merkel vor allem Klimakanzlerin. Auch wenn man unterstellt, daß Merkel und die dominante Richtung der Klimaforschung recht haben sollten – ich halte Zweifel für erlaubt –, bleiben Fragen. Deutschland umfaßt ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung, hat circa drei Prozent der Weltwirtschaftskraft, trägt etwa zwei Prozent zu den globalen CO2-Emmissionen bei. Diese Prozentsätze werden abnehmen. Die Möglichkeiten eines so kleinen Landes zur Klimarettung sind begrenzt. Deutsche Zurückhaltung beim Energieverbrauch erlaubt es anderen Ländern, mehr zu verbrauchen. Dann wird nichts für das Klima gewonnen.

Für ein kleines Land denkbar ist nur, daß man durch eine erfolgreiche Klima- und Energiepolitik andere Länder zur Nachahmung bewegt. Dazu müßte die deutsche Energiepolitik so kostengünstig sein, daß auch die skeptischen Amerikaner – US-Präsident Trump hatte angekündigt, aus dem Pariser Klimaabkommen auszusteigen – aus ökonomischen Interessen unserem Vorbild folgen wollten und die immer noch relativ armen Chinesen und Inder unserem Vorbild folgen könnten.

Wenn der Ausbau der europäischen Transfergemeinschaft die Krise des Bündnisses mit den USA kompensieren soll, ist das nur ein Nachweis geopolitischer Ignoranz. Oder soll die EU nach dem Austritt Großbritanniens eine Aufrüstungsgemeinschaft werden?

Die Erhaltung der Netzstabilität müßte Vorrang haben. Die deutsche Energie- und Klimapolitik müßte auf planwirtschaftliche Instrumente verzichten. Besonders teure erneuerbare Energien dürften nicht besonders kräftig gefördert werden. Der Emissionshandel dürfte nicht durch eine Vielzahl von Fördermaßnahmen ergänzt und teilweise neutralisiert werden. Die deutsche Klima- und Energiepolitik dürfte weder ein Standortnachteil für die Industrie werden noch zu dauernd steigender Belastung der privaten Haushalte führen. Wenn die Welt vor dem Klimawandel gerettet werden soll, müssen die wichtigsten Emittenten, also die USA und China, die Führung übernehmen. Größere Einsicht in die Gefahren des Klimawandels oder reinere Motive im deutschen Bundeskanzleramt ändern daran nichts. Der missionarische Eifer der Kanzlerin in der Klimapolitik kann nur die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA belasten.

Ab 2010 wurde die Eurorettung, das heißt die Erhaltung der Eurozone in ihrem gegenwärtigen geographischen Umfang, zur Aufgabe der deutschen Politik. Griechenland ist nicht das einzige Problem der Eurozone – Probleme in größeren Volkswirtschaften, wie Italien oder sogar Frankreich, zeichnen sich ab –, aber in diesem Land zeigt sich deutlich, was die gemeinsame Währung für ehemalige Dauerabwertungskandidaten und ehemalige Hartwährungsländer angerichtet hat. Die Griechen konnten einige Jahre auf Kredit über ihre Verhältnisse leben, haben die Staatsschulden aufgebläht und die Wettbewerbsfähigkeit verloren. Trotz vieler Hilfsmilliarden steigen die Schulden, und etwa die Hälfte der Jugendlichen hat keinen Arbeitsplatz.

Zwar ist der Euro bisher „gerettet“, aber Deutschland ist in die Haftung für fremde Schulden geschlittert. Seine Sparer leiden unter der Zinspolitik der EZB. Die Rettungsmaßnahmen sind weniger den Griechen – und schon gar nicht der Jugend des Landes – zugute gekommen, sondern meist Kapitalanlegern, die unvorsichtig genug waren, griechische Staatsanleihen zu kaufen. Zugegeben, einige private Kapitalanleger haben auch einen „Haircut“ hinnehmen müssen, bekommen also nicht das eingesetzte Kapital samt vereinbarten Zinsen zurück. Das ändert aber nichts daran, daß es der Eurorettungspolitik gelungen ist, den Euro zu einem Negativsummenspiel zu machen, bei dem viel verloren und wenig gewonnen wird.

Die Kanzlerin scheint zusammen mit Frankreich mal wieder „mehr Europa“ zu wollen. Nach dem Brexit besteht die Gefahr, daß mehr Zentralisierung in der EU nur zum Abbau der wirtschaftlichen Freiheit und der Verlangsamung des Wachstums beiträgt. Wenn der Ausbau der europäischen Transfergemeinschaft die Krise des Bündnisses mit der globalen Militärmacht USA kompensieren soll, ist das nur ein Nachweis geopolitischer Ignoranz. Oder soll die EU nach dem Austritt Großbritanniens eine Aufrüstungsgemeinschaft werden?

Die Bilanz der Regierung Merkel ist alarmierend: Griechenland und die Eurozone sind auf eine Art gerettet worden, die die Begünstigten als Fluch und nicht als Rettung empfinden. Die Beziehungen zu den östlichen Nachbarn werden durch die Willkommenskultur gegenüber „Flüchtlingen“ belastet. Sanktionen haben die Beziehungen zu Rußland gestört, ohne der Ukraine zu helfen. Der Brexit ist nicht durch Zugeständnisse verhindert worden. Das Verhältnis zu den USA leidet unter einem Dissens in Sachfragen und einer gegenseitigen Abneigung zwischen Trump und Merkel.

Sowohl in der Klimapolitik als auch bei der Eurorettungspolitik ging es der Regierung Merkel nicht um die Wahrung der Interessen ihrer Wähler und Steuerzahler, sondern darum, „Gutes“ zu tun. Die deutsche Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 mit der weitgehend unkontrollierten Zuwanderung von fast einer Million Asylanten und Flüchtlingen war wieder soziales Engagement ohne Rücksicht auf die Kosten und Folgen. Keine Frage: Jenseits von Eu­ropa und teilweise in der Nähe Europas sind Millionen Menschen von Armut, Bürgerkrieg und Hunger bedroht. Ihnen zu helfen ist wünschenswert. Aber man muß fragen, ob humanitäre Hilfe für Ausländer ohne Obergrenze eine Staatsaufgabe sein sollte oder auch nur sein darf.

Die Warnung der Realisten, daß die Reinheit der Motive nicht die Abschätzung der wahrscheinlichen Folgen ersetzt, gilt bei friedlichen Mitteln genau wie bei militärischen Mitteln. Realisten wissen, daß das Wünschbare manchmal nicht machbar ist.

Außerdem: Gilt die humanitäre Pflicht bis hin zur Selbstaufgabe? Muß Deutschland auch dann schwer integrierbare Menschen ohne schnell brauchbare Qualifikation für den Arbeitsmarkt aufnehmen, wenn dadurch absehbar die Terrorgefahr und langfristig die politische und wirtschaftliche Stabilität des Landes beeinträchtigt wird? Muß Deutschland mehr Flüchtlinge und Asylanten als der viel größere Rest Europas aufnehmen, für den dieselben völkerrechtlichen und humanitären Verpflichtungen gelten? Dürfen wir vergessen, daß die Briten sich aus der EU verabschiedet haben, nachdem die Bundeskanzlerin und ihre „selbstlose“ Politik der Euro-Rettung und offener Grenzen für Hilfsbedürftige die Risiken einer engen europäischen Bindung gezeigt haben?

Seit Donald Trump, der Muslimen die Einreise in die USA erschweren will und die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge ablehnt, amerikanischer Präsident ist, muß Merkels Flüchtlingspolitik eher als eine Belastung der Einheit des Westens als ein Beitrag zur Verankerung Deutschlands im Westen gelten. Zwischen den Zielen der Verfestigung der Einheit Europas oder des Westens einerseits und der Aufnahme auch anti-westlich eingestellter Flüchtlinge besteht ein Widerspruch, der nicht dadurch verschwindet, daß man ihn nicht sehen will.

Die Warnung der Realisten, daß die Reinheit der Motive nicht die Abschätzung der wahrscheinlichen Folgen ersetzt, gilt bei friedlichen Mitteln genau wie bei militärischen. Realisten wissen, daß das Wünschbare manchmal nicht machbar ist. Obwohl Deutschland sich vom Glauben an die Wirksamkeit militärischer Mittel im Gegensatz zu den USA vor vielen Jahrzehnten verabschiedet hat, hört man doch schon die Forderung, die Aufnahme von Flüchtlingen durch Bekämpfung der Fluchtursachen zu ergänzen.

Wenn die militärischen Interventionen der USA gerade im islamischen Kulturkreis, aus dem so viele Flüchtlinge kommen, nicht erfolgreich waren, wenn Entwicklungshilfe selten zu nachweisbar steigenden Pro-Kopf-Einkommen geführt hat, dann läuft die Forderung nach Bekämpfung der Fluchtursachen darauf hinaus, einmal wieder hohe Kosten für zweifelhafte Effekte auf sich zu nehmen. Selbst wenn Entwicklungshilfe tatsächlich die Armut in den Empfängerländern linderte, wäre ein Effekt davon, daß mehr junge Männer die Kosten für Fluchthelfer tragen könnten und der Andrang zu- statt abnähme.

Ein Weg der Bekämpfung der Fluchtursachen allerdings funktioniert: Wenn wir so viele nicht schnell integrierbare Flüchtlinge aufgenommen und versorgt haben, daß viele deutsche Leistungsträger weggelaufen sind, daß die Restbevölkerung so arm wie Nordafrika oder der Mittlere Osten wird – hohe Kosten bei der Klimarettung und Euro-Rettung sind dabei „hilfreich“ –, dann gibt es keinen Grund mehr für Syrer, Afghanen oder Eritreer, nach Deutschland zu kommen. Das ist zwar noch ein langer Marsch, es kann aber funktionieren. Wollen die Wähler Angela Merkel oder lieber ihrem Rivalen Schulz den Auftrag erteilen, Deutschland in diese Richtung zu führen?






Prof. em. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politikwissenschaftler, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Vorzüge des Freihandels („Unser nationales Interesse“, JF 31-32/16).

Foto: US-Präsident Donald Trump und Bundeskanzlerin Angela Merkel am 25. Mai in Brüssel beim Nato-Gipfel während der Eröffnung des neuen Nato-Hauptquartiers: Die Bilanz der Regierung Merkel ist alarmierend. Der missionarische Eifer der Kanzlerin in der Klimapolitik kann die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA nur belasten.