© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

„Die Menge kochte, schrie und reckte die Fäuste“
Eigentlich wollte der junge Günther Dilling am 17. Juni 1953 nur gegen Lohnkürzung demonstrieren. Dann aber fand er sich im ersten Volksaufstand der Deutschen gegen die SED-Herrschaft wieder.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Dilling, am 17. Juni 1953 waren Sie Streikführer ihres Betriebs und einer lief mit einer Deutschlandfahne voran.

Günther Dilling: Ja, aber ich verrate Ihnen etwas: Ich weiß nicht, warum! In unserem Betrieb „VEB Holzwerk“, Berlin-Hohenschönhausen, hieß es plötzlich: „Einer mit Fahne voran! Günther, wir wählen Dich zum Streikführer!“ Gesagt, getan. Bis heute weiß ich aber nicht, warum eine Deutschlandfahne.

Ging es nicht um die deutsche Einheit? 

Dilling: Ich war noch jung, erst später habe ich mich viel mit dem 17. Juni beschäftigt. Ich meine: In Berlin war er eher eine soziale Revolte, in Leipzig oder Magdeburg eher politisch. Natürlich aber war ich kein Freund des Kommunismus. Mit elf wurde ich auf dem Schulweg von Russen verhaftet – als NS-„Wehrwolf“, ich wußte gar nicht, was das ist, und zu 15 Jahren Lager in der UdSSR verurteilt. Wohl weil ich eine HJ-Jacke trug. 1945 zog man an, was es gab, und natürlich hatte ich alle Abzeichen entfernt. Mit 14, nach drei Jahren Rußland, wurde ich vorzeitig entlassen. Jedenfalls, der Auslöser des 17. Juni war eine staatliche „Normerhöhung“: Mehr Arbeit bei gleichem Lohn! Dabei war meiner schon lächerlich: 78 Pfennig die Stunde! Um etwa ein süßes Kuchenbrötchen bei HO zu kaufen, mußte ich fast vier Stunden arbeiten! Ich brannte für einen Streik. Von einem Volksaufstand ahnten wir allerdings nichts. 

Sie und Ihre Kollegen marschierten von Hohenschönhausen zum Alexanderplatz. Schwante ihnen unterwegs nicht, daß das inzwischen nicht mehr nur ein Streik war?

Dilling: Nein, zwar sahen wir unterwegs russische Soldaten, die zusammengezogen wurden, aber sie lächelten und riefen: „Druschba!“ – Freundschaft. Heute weiß ich, warum: Die wußten auch nicht, was los war. Dann erreichten wir den Alex und die Schloßbrücke im Zentrum Berlins. Dort standen der Menge bereits sowjetische Panzer gegenüber, die sich mit heulendem Motor drehten oder Gas gaben, um kurz vor der Menge abrupt zu stoppen oder die Rohre schwenkten, um die Menge einzuschüchtern. Die wiederum kochte, schrie und reckte die Fäuste.   

Sie vorne mit dabei?

Dilling: Es war unsinnig, aber wir schnappten uns ebenfalls Stangen, Latten, Steine und prügelten auf die Panzer ein, was denen natürlich nichts anhaben konnte. Dann aber rückten die Panzer vor, um die Menge zu zerstreuen. Ich glaube nicht, daß sie jemanden überfahren wollten, aber sie nahmen es in Kauf. So mußte ich mit ansehen, wie einer einen vielleicht 15jährigen im Geländer der Schloßbrücke zerquetschte. Mit Absicht? Aus Versehen? Möglicherweise hat der Fahrer das wirklich nicht mitbekommen. Als der Tank weiterfuhr, klebten die zermatschten Reste des Jungen im Brückengeländer. Sowas vergißt du nie! 

Wie gelang es Ihnen, zu entkommen?

Dilling: Wir zogen uns zurück, vereinbarten aber, anderntags weiterzustreiken. Doch am 18. Juni wurde ich verhaftet. Ohne Schuld, denn das Streikrecht stand in der DDR-Verfassung! Dennoch ließen sie mich beim Verhör schlimmen Durst leiden, schlugen brutal zu, renkten mir einen Arm und beide Hände aus. Später in der Zelle konnte ich mein Essen fast nicht mehr zum Munde führen. Nach der Wende las ich in meiner Akte, daß einer der beiden Verhörenden Wolfgang Schwanitz war, der 1989, als die SED Reform spielte, Nachfolger Erich Mielkes als Stasi-Chef wurde.  

Sie erhielten fünf Jahre Zuchthaus. 

Dilling: Fünf Jahre! Wenn man das realisiert, bekommt man es mit der Angst! Ich redete mir aber ein, der Westen hole mich raus. Doch nach elf Monaten, ohne daß Hilfe kam, erschienen zwei Stasi-Leute: „Na Dilling, möchten Sie freikommen?“ Na klar! Und – unfaßbar – ich wurde entlassen! Was für ein Gefühl! Sie organisierten sogar, daß ich in meinen Betrieb zurückkonnte. Der Schock kam zwei Tage später. Vom Arbeitsplatz weggerufen: Besuch! Es waren die beiden: „Herr Dilling, gefällt Ihnen die Freiheit?“ „Natürlich!“ „Schön. Nun, wir haben etwas für Sie getan. Finden Sie nicht, nun sollten Sie etwas für uns tun?“ Kloß im Hals. „Sie sind doch in der Gemeinde von Pfarrer Fritz Wilke, kennen ihn privat.“ „Äh, ja.“ „Er hetzt gegen unseren Staat!“ „Sie irren!“ „Gewiß nicht. Schreiben Sie doch für uns regelmäßig auf, was Sie bei ihm hören.“ Hitze im Kopf! Zurück in den Bau? Nur das nicht! Ich unterschrieb. Anderentags zu Wilke: „Herr Pfarrer, ich soll Sie bespitzeln!“ Er wollte mir helfen: „Dann berichte ihnen, was du hier hörst und siehst.“ Aber mir wurde klar, das kam nicht in Frage, daß mir nur Flucht blieb. „Rübermachen“ war einfach, noch gab es keine Mauer. Doch ließ man Leben, Familie, Freunde für immer zurück und stand auf der Abschußliste der Stasi – die vergißt dich nicht. Tatsächlich versuchten sie später, mich zu entführen und in die DDR zu verschleppen. Nur ganz knapp konnte ich dem entkommen. 

War das der Grund, sich an Aktionen gegen die Mauer zu beteiligen?  

Dilling: Als die 1961 gebaut wurde, war ganz Berlin empört. Nicht nur wir, viele West-Berliner gingen, um den Grenzsoldaten ins Gewissen zu reden: „Ihr könnt doch unsere Stadt nicht teilen! Uns doch nicht von unseren Familien trennen!“ Bei einigen machte das Eindruck. Tatsächlich gelang es uns, einen dazu zu bringen, die MPi wegzuwerfen und über den Stacheldraht zu springen! Im Lauf der Zeit war ich dann an etlichen Fluchten beteiligt, zusammen mit anderen jungen Burschen, die das Unrecht der DDR und die Teilung nicht dulden wollten. Ich habe zum Beispiel bei drei Tunnelfluchten geholfen. Sie gruben vom Osten aus, wir vom Westen. Die Kunst: sich zielsicher zu treffen. Am spektakulärsten war wohl eine Flucht 1967 mit einem Bombenanschlag auf die Mauer gleich hinter dem Hochhaus des Springer-Verlages.

Brachte die Bombe Sie nicht in Gefahr? 

Dilling: Wir hatten einen Fachmann unter uns. Der klaute das TNT aus einem Steinbruch. Allein die zwei Kilo nach West-Berlin zu schmuggeln war ein Abenteuer für sich! Wir notierten die Streifen der Polizei. So wußten wir: Jetzt haben wir Zeit. Die Ladung plaziert und: Bumm! 2,5 Quadratmeter Mauer lösten sich in Staub auf. Großartig! 

Und dann? 

Dilling: Na was denken Sie – wir wurden natürlich von der West-Berliner Polizei verhaftet. Zum Glück gelang es unserem Rechtsanwalt, uns rauszupauken. Das einzige, was wir nämlich fürchteten, war, nach dem Vier-Mächte-Abkommen an die Russen ausgeliefert zu werden. 

Wieso nennen Sie das eine „Flucht“? 

Dilling: Na weil die DDR-Grenzer sich genau wie sie verhalten haben: Völlig fixiert auf das Loch. Während zwei von uns 400 Meter weiter in diesem Moment Leitern über die Mauer schoben, die damals noch nicht so massiv war. Hinüber kletterte eine Pfarrersfamilie – zwei Kinder, Mama und Papa. Und keiner hat’s gemerkt! Leider aber ging nicht jede Geschichte so gut aus. Der Soldat, den wir überredeten, über den Draht zu springen, nahm sich 2006 das Leben. 

2006? Das ist 55 Jahre später.

Dilling: Nach der Wende kaufte er sein Vaterhaus in seiner Heimat Luckenwalde und zog als Rentner dorthin. Ob Sie es glauben oder nicht, aber er wurde beschimpft, gepiesackt, erhielt Drohbriefe, Steine ins Fenster, wurde „Verräter“ genannt. Luckenwalde war eben noch ein SED-Städtchen, voller Genossen. Irgendwann war es dann zuviel für ihn. Ich sage Ihnen, heute noch gibt es in der Ex-DDR solche Gemeinden! Ich habe ähnliches erlebt, allerdings früher, als ich in den Neunzigern nach Blankenburg im Harz zog. Sie haben mich diffamiert und mir die Scheiben eingeworfen. 

Warum gingen Sie nach Blankenburg?

Dilling: Das ist die „Schuld“ Wilfried Hasselmanns – bis 1988 Innenminister und Vize-Ministerpräsident von Niedersachsen. Er war ein prima Kumpel, eigentlich ein Landwirt, der einem einfach den Arm um die Schulter legte und sagte: Wir zwei schaffen das! 1989 bat er mich, die Gedenkrede zum Jahrestag des Mauerbaus zu halten. Ich sagte: „Diese Mauer wird fallen wie die von Jericho!“ Danach kam er zu mir und meinte freundschaftlich: „Mensch Günther, du bist und bleibst ein Träumer!“ Drei Monate später rief ich ihn von Helmstedt aus an: „Wilfried, der Träumer ist auf dem Weg nach Berlin!“ Er: „Unglaublich, die Grenze ist auf!“Mit ihm ging ich nach Sachsen-Anhalt, wo er sich für den Aufbau der Verwaltung engagierte und ich als Baugutachter half. So lernte ich auch Werner Münch kennen, 1991 bis 1993 CDU-Ministerpräsident in Magdeburg. Ein feiner Mensch, der für jeden da war. Aber zu viele stänkerten: „Der ist aus dem Westen, den wollen wir nicht!“ Das hat ihn wohl sehr getroffen.   

Sie kannten auch Heinrich Lummer. 

Dilling: Ach, ich kannte viele: Lothar de Maizère, Rainer Eppelmann – Hans Modrow hat mich sogar zu sich nach Hause eingeladen – und mit Joachim Gauck habe ich mich geduzt. Aber das war in der Wendezeit. Ich weiß nicht, ob sie mich heute noch kennen würden. Nun, mit Lummer, das war noch in West-Berlin. Im Schöneberger Rathaus gab es ein dezentes Käßchen für private Spenden. Der Abgeordnete Lummer verteilte das Geld diskret, etwa an Fluchthelfer wie uns. Lummer war ein „Schlitzohr“, er wußte die Dinge zu drehen und hatte immer Ideen, toll! 

Den Schock Ihres Lebens erlebten Sie 1972.

Dilling: Ja, als ich in einem umgebauten BMW meine Schwester und ihren Mann aus der DDR schmuggelte. Während der Abfertigung an der Grenze hörte ich meine Schwester in ihrem Versteck leise atmen – mein Gott, hätte der Grenzer das auch gehört! Drüben öffnete ich das Versteck. Mein Schwager sprang heraus: „Ich bin frei! Ich bin frei! Ich bin frei!“ „Dieter! Wir sind noch nahe der Grenze, ruhig bitte!“ Ich wollte nichts riskieren. Der Schlag traf mich, als ich nach der Wende in meiner Akte las, daß die Aktion eigentlich eine Falle der Stasi war. Und niemand anderes als meine kleine geliebte Schwester sollte mich hineinlocken! Und ich erfuhr, sie und ihr Mann hatten in der DDR gar nicht das Leben geführt, von dem sie mir immer erzählt hatten, sondern hatten als IM ihre Kollegen bespitzelt! Der Plan war, mich am Grenzübergang Herleshausen als Fluchthelfer zu ertappen. Ich aber beschloß damals, lieber über Marienborn zu fahren. Während man dort nicht informiert war, warteten die Greifer in Herleshausen – rein zufällig – vergeblich. Natürlich wollte ich meine Schwester zur Rede stellen – sie hat aber nie reagiert. 

Was denken Sie heute über den 17. Juni? 

Dilling: Er gerät immer mehr in Vergessenheit. Ich denke, schuld ist die Politik, die trotz Lippenbekenntnissen nicht wirklich versucht, die Erinnerung daran im Volk wachzuhalten. Ich meine, der 9. November müßte unser Nationalfeiertag sein. Ein Tag, auf den wir Deutsche wirklich stolz sein können! Angeblich geht das aber nicht, wegen des 9. November 1938. Ich bin in der evangelischen jungen Gemeinde aufgewachsen und habe versucht zu verstehen, was im Holocaust passiert ist. Ich wollte nach Israel reisen, aber das verweigerten die Israeli: weil ich Mitglied einer NS-Organisation war. Stimmt: Mit zehn war ich wie fast jeder HJ-Pimpf. So ging ich zur Jüdischen Gemeinde und lernte Heinz Galinski kennen, wir hatten fast ein freundschaftliches Verhältnis. Doch eines Tages hielt er eine Ansprache und meinte, die Deutschen müßten bis ins dritte Glied büßen! Dann war Kaffee. Ich ging zu ihm: „Heinz, ist das dein Ernst, wünschst du dir, daß meine Kinder und ihre Kinder büßen?“ Er fuhr mich an: „Ihr Deutschen müßt büßen!“ und wandte sich ab. Das war’s, ich sah ihn nie wieder. Später schrieb ich in der Frage seinem Nachfolger Ignaz Bubis und dem Botschafter Israels Schimon Stein, erhielt aber von beiden keine Antwort in der Sache. Ich meine, wenn nicht der 9. November, dann sollte unser Nationalfeiertag nicht der 3. Oktober sein, der – wie der Leiter unserer „Vereinigung 17. Juni 1953“ Carl-Wolfgang Holzapfel sagt – nur ein „Feiertag nach Aktenlage“ ist. Sondern es hätte dann der 17. Juni bleiben müssen. Aber das hat die Politiker nicht gekümmert. Wie sie sich um so vieles nicht kümmern. Wenn ich etwa bedenke, was sie heute für die Flüchtlinge tun! Als ich 1954 Flüchtling im eigenen Lande war, kam ich ins Lager Marienfelde, das ich tagsüber nicht verlassen durfte. Zu essen gab es morgens zwei Scheiben Brot mit Aufstrich, mittags Eintopf, abends zwei Scheiben mit billiger Wurst. Von Kochschinken etwa konnten wir nur träumen. Ebenso davon, neu eingekleidet zu werden. Wenn ich sehe, wie die Flüchtlinge heute – die keine Landsleute sind – umsorgt werden, welche Rechte sie im Gegensatz zu uns damals genießen, wie sie beschenkt und eingekleidet werden und manche sich dennoch beschweren, wir würden unmenschlich mit ihnen umgehen, dann habe ich dafür – gelinde gesagt – kein, aber wirklich gar kein Verständnis! 





Dr. Günther Dilling, der Bauingenieur, geboren 1934 in Berlin, entwickelte jene Tabellen zur Berechnung des Wärmeschutzes, die noch heute in vielen deutschen Bauämtern (in überarbeiteter Form) verwendet werden. 1956 trat er der CDU bei, für die er nach der Wende Rats- und Kreistagsmitglied in Blankenburg/Harz so­wie Vizechef der CDU-Mittelstandsvereinigung Sachsen-Anhalts war. Mit der Wahl Angela Merkels zur Parteichefin trat er 2000 aus Protest gegen ihre FDJ-Vergangenheit aus. 

Foto: Berlin am 17. Juni 1953, Alexanderplatz – das brennende Columbiahaus (oben) Sowjetpanzer (rechts): „Sie röhrten, drehten sich auf der Stelle und schwenkten ihre Rohre, um uns zu drohen. Wir schnappten Stangen, Latten und Steine und prügelten auf sie ein, natürlich vergeblich. Dann plötzlich rückten die Panzer vor .“

 

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