© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/17 / 09. Juni 2017

Hendricks’ gleislose Güterbahn
Siemens testet seit fünf Jahren Oberleitungs-Lkw / Werden 5.000 Kilometer Autobahn elektrifiziert?
Paul Leonhard

Mit fast 42.000 Kilometern hat Deutschland immer noch eines der dichtesten Eisenbahnnetze in Europa. Und das, obwohl seit 1990 ein Sechsel der Strecken stillgelegt wurde. Nur Belgien, Luxemburg, die Schweiz und die Tschechei kommen noch auf eine ähnlich hohe Netzdichte von über 100 Meter pro Quadratkilometer. Doch beim Anteil der elektrifizierten Strecken liegt die Deutsche Bahn mit 59 Prozent nur knapp über dem EU-Durchschnitt. In der Schweiz steht das komplette Netz unter Oberleitung, in Belgien sind es 86 Prozent.

Doch statt hierbei aufzuholen und wieder mehr Güter per Bahn zu transportieren, treibt auch im Ferntransportsektor Angela Merkels Energiewende teure Blüten: Abgasfreie Lkws, die mit Elektromotoren ausgerüstet sind und Ökostrom aus der Oberleitung ziehen, sollen künftig über deutsche Autobahnen rollen. Was nach einer verrückten Idee klingt, ist allerdings der Erkenntnis zu verdanken, daß die E-Auto-Technik im schweren Ferngüterverkehr noch weniger praktikabel ist als bei Pkws.

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung hat angesichts der ungelösten Batterieprobleme bereits vor vier Jahren den Test eines „oberleitungsgeführten Systems“ für Lkws vorgeschlagen. Oberleitungs-Hybrid-Lkw könnten Teil einer Energiewende im Güterverkehr sein, heißt es in der Studie „Klimaschutzbeitrag des Verkehrs bis 2050“. Bis dahin sei weltweit mit einer Verdreifachung des Güterverkehrs und damit mehr als doppelt so hohen Kohlendioxid-Emissionen aus dem Straßenverkehr zu rechnen.

Und da für alles, was nach Energiewende klingt, die Steuergelder üppig fließen, stand die Siemens AG sofort bereit: Der Einsatz von Oberleitungslastkraftwagen sei ein „nachhaltiger Lösungsansatz“ für die Probleme in der Elektromobilität. Kernelement des Systems ist ein intelligenter Stromabnehmer in Kombination mit einem Hybridantriebssystem – sprich: Entsprechend ausgerüstete Lastwagen versorgen sich während der Fahrt aus Oberleitungen mit elektrischer Energie. Auf „normalen“ Straßen schaltet sich ein batterieversorgter oder ein Dieselmotor zu. Ein Sensorsystem ermögliche dem Stromabnehmer bei einer Geschwindigkeit von bis zu 90 Stundenkilometern den Kontakt zur Oberleitung herzustellen und zu unterbrechen.

Weitere zehn Milliarden Euro für die Energiewende?

Bremsende und beschleunigende Lkws könnten die Energie untereinander über die Fahrleitung austauschen – beispielsweise auf Gefälle- und Steigungsabschnitten, elektrische Bremsener-gie könne ins Energieversorgungsnetz rückgespeist werden, der optimale Wirkungsgrad liege bei mehr als 80 Prozent. Überdies habe die einmal geschaffene Infrastruktur eine lange Lebensdauer bei niedrigen Wartungs- und Instandhaltungskosten. Auch sei die Technologie sicher, wie der Einsatz von Oberleitungsbussen einst zeigte, und lasse sich in bestehende Verkehrssysteme integrieren.

Die Idee ist nicht neu. 1882 wurden elektrische Traktoren auf der Strecke der Bielatalbahn in der Sächsischen Schweiz eingesetzt. Sie transportierten Güter von Königstein zu einer drei Kilometer entfernten Papierfabrik. Auch in Hamburg gab es eine „gleislose Bahn“: Zwischen Hafen und Bahnhof Altona verkehrten von 1911 bis 1949 elektrische Schleppfahrzeuge. In Bitterfeld nördlich von Leipzig fuhr zwischen 1984 und 1988 ein Kipper als Oberleitungs-Lkw.

Siemens testet die Lkw-Oberleitungstechnik seit inzwischen fünf Jahren auf dem ehemaligen DDR-Militärflugplatz Templin/Groß Dölln 60 Kilometer nördlich von Berlin. Ein Demonstrationsobjekt auf öffentlichen Straßen baut der Münchner Konzern derzeit in Kalifornien. Auf einem Teilstück von 1,6 Kilometern wird eine Straße, die die Häfen in Los Angeles und Long Beach mit einem Logistikzentrum verbindet, mit einer Oberleitung ausgerüstet. So will die dortige Umweltbehörde SCAQMD Erkenntnisse sammeln, ob sich das Siemens-System auch für eine dauerhafte kommerzielle Nutzung eignet. Hintergrund ist die hohe Belastung der Region durch Feinstaub, CO2 und Stickoxide.

Auch die schwedische Transportbehörde Trafikverket steht unter politischem Druck: Ab 2030 soll der Frachtsektor ohne fossile Brennstoffe auskommen. Seit Juni 2016 wird daher auf einem zwei Kilometer langen Autobahnabschnitt der E16 nördlich von Stockholm ein Oberleitungssystem mit zwei umgebauten Diesel-Hybrid-Lastwagen getestet. Mitte 2018 soll analysiert werden, ob sich dieser „eHighway“ für einen weiteren Ausbau eignet.

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks stellt 40 Millionen Euro Steuergeld für einen deutschen „eHighway“ bereit. Ab 2019 sollen zwei je sechs Kilometer lange Strecken auf der A1 zwischen dem Logistikzentrum Reinfeld und dem Lübecker Hafen und auf der A5 zwischen dem Gewerbezentrum Darmstadt-Nord und dem Frankfurter Flughafen elektrifiziert sein. Ein Ausbau der Autobahn koste pro Kilometer beidseitig zwischen zwei und 2,5 Millionen Euro – billiger, als neue Bahnstrecken zu bauen. Daß letztere viel leistungsfähiger sind, unterschlägt die SPD-Politikerin.

Ihre Planungen gehen von einer Elektrifizierung von stark frequentierten Lkw-Pendelstrecken aus. Die Aufrüstung von 5.000 des 13.000 Kilometer langen Autobahnnetzes würde mindestens zehn Milliarden Euro kosten. Geld, das aus Sicht von Hendricks Staatssekretär Jochen Flasbarth gut angelegt sei: Der Güterverkehr auf der Straße müsse „klimafreundlich“ werden. Beim Verein Bremer Spediteure bringt man schon die nächste teure Idee ins Spiel: das automatische Fahren vieler Lkws in Kolonne auf der elektrifizierten Autobahn.

Das „eHighway“-Konzept von Siemens: w3.siemens.com