© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/17 / 09. Juni 2017

Im Reich der Innerlichkeit
Wo alle äußere Macht und Gewalt an Grenzen stoßen: Hans Pfitzners vor hundert Jahren uraufgeführte Oper „Palestrina“
Eberhard Straub

Hans Pfitzner blieb immer ein Fremder in seiner Zeit, in der sich zunehmend ein kräftiges Unbehagen an der Freiheit der Kunst bemerkbar machte. Auch der Künstler sollte sich spätestens ab der Wende zum 20. Jahrhundert mit seinen Werken als politischer Aktivist Zielen oder Absichten unterordnen, die gar nichts mit der  Unabhängigkeit des Geistes zu tun hatten, der weht, wo und wie er will.

Gegen solche Tendenzen stritt temperamentvoll der ebenso geistreiche wie  eigensinnige Komponist in zahlreichen Aufsätzen. Seine Oper „Palestrina“, vor hundert Jahren am 13. Juni 1917 in München zum ersten Mal aufgeführt, war das dramatische Bekenntnis zum inneren Reich, in welchem andere Forderungen gelten als im äußeren und äußerlichen Reich politischer und sozialer Tendenzen. Daran erinnert demonstrativ ein längeres Zitat von Arthur Schopenhauer, das Pfitzner seiner Dichtung als Motto voranstellte. Der lebendige Geist, wie er sich in Kunstwerken manifestiert, schwebe „wie eine ätherische Zugabe, ein sich aus der Gärung entwickelnder wohlriechender Duft über dem weltlichen Treiben, dem eigentlich realen, vom Willen geführten Leben der Völker“.

In diesem Sinne betrachtete Pfitzner ein jedes Kunstwerk als eine Welt für sich. Denn der Künstler hat nur ein Ziel: seinen inneren Stimmen und deren Geboten zu gehorchen. Ist ihm ein möglichst vollkommenes Kunstwerk gelungen, auch mitten im Krieg oder während anderer Umstürze und Katastrophen, so steht es einmalig in Zeit und Raum. Es ist durch nichts zu ergänzen, weder durch Regieeinfälle noch mit solch aggressiver Inbesitznahme ähnlichen Versuchen von Dirigenten, Stücke, die sie nicht verstehen, „interessant“ oder zum „Erlebnis“ zu machen. Thomas Mann, ein Freund Pfitzners, erkannte in „Palestrina“ sofort das Werk eines leidenschaftlichen Unpolitischen in seinem Sinne, der nämlich auf der Bühne vergegenwärtigte, was ihn in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ beschäftigte: wie unter dem Druck der politischen und ideologischen Überwältigungsmechanismen die angefochtene Würde der Innerlichkeit wenigstens in Rückzugsgefechten künstlerisch behauptet werden könne. 

Der Komponist Palestrina wird bei Pfitzner von äußeren Mächten bedrängt, seine Kunst in den Dienst kulturpolitischer  Maßnahmen zu stellen. Er soll eine Messe schreiben, um mit ihr radikale Reformer von ihrem Plan abzubringen, wegen allzu virtuoser Eigenwilligkeiten  zeitgenössischer Musiker mit der Musikgeschichte insgesamt zu brechen und zur Schlichtheit des gregorianischen Chorals zurückzukehren.

Musik wird als Machtfrage behandelt

Das ist ein reaktionäres Programm, versteckt hinter dem alten Streit, ob dem Wort oder der Musik der Vorrang gebühre. Die Musik kann ja, gerade wenn sie das Wort übertönt, mit ihren Mitteln dessen bedeutungsvolle  Verständlichkeit sogar erleichtern. Der Kaiser und einige Kirchenfürsten möchten als historisch gebildete Kenner in Übereinstimmung mit der musikalischen Entwicklung bleiben und wenden sich gegen unbedachte Eingriffe in das Gewordene. Der Papst muß noch überzeugt werden, auch das Konzil, obschon den meisten in Trient versammelten Bischöfen und Theologen der Zustand der Musik herzlich gleichgültig ist. Sie sind als Politiker und Meinungsproduzenten mit ganz anderen Angelegenheiten beschäftigt: der Vorherrschaft der Spanier, den Streitfragen um die deutsche Reformation oder mit den Bemühungen des Papstes, nicht vom Konzil – einer Art Parlament – in seiner monarchischen  Souveränität eingeschränkt zu werden. Eine musikalische Frage ist zugleich eine Machtfrage und wird als solche behandelt.

Palestrina weigert sich, eine Modellmesse zu schreiben und damit die herkömmliche Musik zu retten. Eindringlich erinnert er seinen Förderer, den Kardinal Carlo Borromeo, daran, daß der Papst ihm als Angestellten durchaus befehlen kann, jedoch nicht seinem Genius. Alle Machtbefugnisse der äußeren Gewalten geraten vor dem inneren Reich an ihre Grenze. Herren in der äußeren Welt können den Künstler einsperren und foltern, aber sie vermögen nichts über den souveränen Künstler und seinen Mut. Palestrina steht allein und unverstanden allen möglichen Politikern gegenüber, die beanspruchen, auch in künstlerischen Fragen Anordnungen zu treffen und sich dabei auf die ihnen vertrauten Mechanismen von Befehl und Gehorsam verlassen.

Der Komponist Palestrina ist kein Avantgardist, kein Moderner, der sich Theorien zu einer neuen Musik entwirft. Er ist kein Futurist, allein der Zukunft zugewandt. Palestrina sieht sich in weiten, überpersönlichen Zusammenhängen, er will bewahren und weiß nicht so recht was. Er ist ein skeptischer Konservativer. Er sieht eine neue Zeit auch musikalisch heraufziehen, der er sich allerdings nicht entgegenstemmen mag. Denn das hieße, sich gegen die Genialität zu wehren und so banal und politisch zu werden wie die Funktionäre oder Parlamentarier.

Palestrina weigert sich, eine Messe zu schreiben

Die Welt geht, wie er illusionslos beobachtet, ungeahnte Wege, und was ihm und anderen ewig schien, wird vielleicht alsbald wie im Winde verweht sein. Daß er dabei als veralteter, unzeitgemäßer Künstler außer Mode gerät, schreckt ihn nicht sonderlich. Mit einem solchen freien Mann läßt sich keine Politik machen. Ohne Macht kann man nichts machen, und Palestrina will gar keine Macht als Kulturpolitiker im Kulturbetrieb – zum Verdrusse jener, die ihn für ihre Interessen gebrauchen wollen.

Mit der Kirche und ihrem Parlament in Trient, den Führern der kaiserlichen oder päpstlichen Partei, mit den Intrigen und geschäftigen oder nur geschäftstüchtigen Umtrieben der Abgeordneten aller Art, die eben keine Ordnung schaffen, entwirft Pfitzner im zweiten Akt ein Bild der fragwürdigen bürgerlich-liberal-demokratischen Welt, in der er lebte, als komische Oper. Diese Kunst- und Menschenfreunde rücken das Gespräch in den Mittelpunkt, was sie aber nicht davon abhält, den Dialog – etwa mit Palestrina, dem freien Künstler – abzubrechen und zu gewalttätigen, willkürlichen Methoden zu greifen, um ihren Willen durchzusetzen wie jeder Machthaber. Über diese Lärmtrompeten aufgeregter Nichtigkeit triumphiert der unpolitische Geist, der im Innersten der Welt, in der Einsamkeit, zu Hause ist. Allein mit sich am Ende einer großen Zeit, die vom tödlich grellen Licht des Bewußtseins geblendet, kein Gespür mehr hat für das traumhaft-irrationale Künsteschaffen, dämmert ihm eine Ahnung von seiner Aufgabe und Bestimmung: der letzte zu sein in einer Folge außerordentlicher Meister und sich deren Erbe mit einem letzten Meisterwerk als würdig zu erweisen. 

Er sieht sich historisch in der Gemeinschaft vieler, nicht als einzelnes Individuum, wie die Neuen, Jungen und Modernen, wie sein Schüler Silla, sondern als der Vollender einer Tradition. Einsamkeit ist also nicht das Innerste in dieser Welt. Vielmehr gewährt die Einsamkeit Möglichkeiten, aus der Übereinstimmung mit den Vorläufern zu ungeahnter Schaffensfreude wieder zu erwachen. Ungewollt springen die inneren Brunnen auf und überstürzen seine Seele und Phantasie mit ihren Verlockungen und Verheißungen, so daß zwanglos jenes Werk in einer Nacht der Weltverlorenheit entsteht, das die Mächtigen dieser Welt nicht erzwingen konnten. Das anerkennen beschämt der Papst und der Kardinal Carlo Borromeo. Sie geben damit zu, daß im Reich der Innerlichkeit Kräfte walten, die sich ihrer Kontrolle und Aufsicht und ihren Verwertungsabsichten entziehen.

Kunstwerke sollten nicht politisiert werden

Diese Oper eines ganz modernen und kämpferischen Unpolitischen – des Hans Pfitzner – enthält eine Mahnung an alle 1917 wie 2017 unter dem Diktat des Politischen Stehenden: Kunstwerke, Geschöpfe der freien Phantasie, nicht zu politisieren und nach wechselnden politischen Erwägungen zu beurteilen und aktualisierend für kunstfremde Bedürfnisse zu arrangieren.

Diese Aufforderung wird vor allem von denen dauernd überhört, die während der allerneuesten Neuzeit sehr vergängliche Schmähgedichte und Haßgesänge vehement im Namen der künstlerischen Freiheit in Schutz nehmen und bemüht sind, ohne Rücksicht auf die Freiheit der Kunst, unvergänglich gewordene, über die Zeiten siegreiche Kunstwerke und Künstler zumindest politisch ins Zwielicht zu rücken, weil sie nicht zu der wahren Freiheit fanden, die sich erst in der westlichen Wertegemeinschaft offenbart. Wenn ein Gesinnungsminister etwa die Wiener Klassik und deren Folgen als unvereinbar mit dem Menschenbild und der Werthaltigkeit des Grundgesetzes kriminalisierte, wird es dann einen deutschen Palestrina geben, der sich weigert, seine Musik maßvoll wertegemeinschaftlichen Zwecken anzupassen? Die Politik will sich alles unterwerfen. Auch in Gebieten, wo mit Wagner das Gebot herrschen sollte: Hier gilt’s der Kunst. Noch nie  war die Kunst so gefährdet, wie unter der dauernden Beschwörung der künstlerischen Freiheit. 





Hans Pfitzner

In Moskau 1869 geboren, studierte Hans Pfitzner in Frankfurt am Main und komponierte mit Anfang Zwanzig sein Operndebüt „Der arme Heinrich“. Seine in zahlreichen Texten geäußerte antisemitische Haltung schon lange vor 1933 und dann seine NS-Nähe führten dazu, daß seine Werke nach 1945 nur noch selten gespielt wurden. Hans Pfitzner starb 1949 in Salzburg. Erst in jüngerer Zeit beschäftigen sich wieder Dirigenten wie Ingo Metzmacher oder Christian Thielemann mit Pfitzners Musik. Die Oper „Palestrina“ wurde zuletzt 2011 in Hamburg und Zürich aufgeführt.