© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/17 / 09. Juni 2017

Muslime auf der Wartburg
Sirenentöne: Richard Wagners „Tannhäuser“ am Staatstheater Darmstadt
Sebastian Hennig

Selten sind Theaterbauten modern und zweckmäßig zugleich. Das moderne Bauen behauptet oft einen Funktionalismus, den es dann nicht einlösen kann. Das erweist sich, sobald der Ort mit Menschen bevölkert wird. Handelt es sich tatsächlich um Baukunst, dann wird der Ort feierlich, durch eine sich selbst empfindende Menge.

Das Staatstheater Darmstadt liegt am Himmelfahrtstag zwei Stunden vor der Vorstellung verwaist wie ein sowjetisches Provinzkulturhaus östlich des Ural. Reihen von riesigen weißen Zementpilzen zu beiden Seiten hüllen den Georg-Büchner-Platz in eine mystische Tristesse, wie eine nachgestellte Szene aus einem der frühen Filme von Michelangelo Antonioni. Die Häuser an der angrenzenden Hügelstraße haben die Anmutung von Ferienwohnungsanlagen in Marbella oder auf Mallorca. Der Zustand der Verwahrlosung wäre tröstlicher als diese absolute Verlassenheit. 

Das 1971 erbaute Große Haus des Staatstheaters wurde vor zehn Jahren grundlegend saniert. Der 1978 im Iran geborene Amir Reza Koohestani hat nun auf der gewaltigen Bühne Richard Wagners romantische Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg“ inszeniert. Der problematische Minnesänger wird von dem türkischen Tenor Deniz Yilmaz verkörpert. Ein Bacchanal findet in dieser mittelalterlich keuschen Inszenierung nicht statt. Der Mangel an Lüsternheit wird aber reichlich von der Präsenz der finnischen Mezzosopranistin Tuija Knihtilä aufgewogen. Sowohl stimmlich als auch augenscheinlich in ihrem roten Kleid wird verständlich, daß der gewaltige Tannhäuser-Kerl Yilmaz von ihr beinahe fünfzig Minuten lang zurückgehalten wird. Zuweilen zieht er sich seinen Bademantel über den Kopf, um die Sirenentöne der Verführerin nicht länger hören zu müssen.

Der Regisseur spielt mit den verschiedensten Elementen, die auf eine reizbare Gesellschaft explosiv wirken können. Die holden Frauen des Chores tragen in der Sängerkriegsszene des zweiten Akts farbige Kopftücher wie moderne Musliminnen. Tannhäuser reißt der Elisabeth (Edith Haller), die ihr Tuch mit lässiger Koketterie ums Haupt geschlungen hat, dieses in wilder Leidenschaft herunter. Der Pilgerchor tritt mit flatternden, metallischen Isolationsfolien auf, jener Industrieverpackung, in der die Schlepper „Flüchtlinge“ nach Norden bringen.

Die Handlung wird nicht instrumentalisiert

Die Sängerkrieger reichen sich einen mit Juwelen besetzten Krummdolch zu, den sie je nach Erregungszustand aus der goldenen Scheide ziehen. Das knüpft wohl an das Schwert an, welches nach Landgraf Hermanns (Martin Snell) Rede „wider den wilden Welfen“ gezückt wurde. Koohestani jongliert mit einer gewissen Beiläufigkeit mit diesen Kennzeichen. Eine Absicht ist nicht zu merken, und da den Vorbildern aus der schlechten Wirklichkeit eine archaische Metaphorik zu eigen ist, wirken sie zumeist nicht völlig unpassend. Die Handlung wird für keine abwegige Aussage instrumentalisiert.

Selten findet man auch unter den Rittern des Sängerkriegs durchgängig so klar akzentuierte Persönlichkeiten. Der ehrsüchtige Biterolf wird von Nicolas Legoux gleichermaßen überzeugend gegeben wie der träumerische Walter von Minseok Kim. Wie der Sänger des Wolfram, Oleksandr Prytolyuk, hat auch Deniz Yilmaz eine erstaunliche Naturausstattung für die Rolle. Es sind Stimmen, die den Eindruck hinterlassen, ihrer Kraft selbst noch gar nicht innegeworden zu sein.

So waren sie in Darmstadt unfreiwillig noch in einer Art Werkstatt-Verfassung zu erleben. Unzweifelhaft verfügen sie über die Anlagen, ihre Partien eindrucksvoll gestalten zu können. Dazu bedarf es noch einiger Praxis und Erprobung. Danach wäre es gut möglich, ja sehr wahrscheinlich, daß ihre Namen noch unter den Zeichen des Triumphes genannt werden. Der Darmstädter Tannhäuser konnte davon bereits eine Ahnung geben, die sich phasenweise schon erfüllte. Nun weiß man nie, welche rein verwaltungstechnischen oder auch zwischenmenschlichen Hindernisse einer idealen Probe- und Reifungszeit entgegenstehen. Es bleibt das Beste zu wünschen.

Die Leistung des Staatsorchesters Darmstadt unter Will Humburg jedoch versetzt den Zuhörer in eine dankbare Andacht über den Umstand, landauf, landab in den deutschen Ländern immer wieder unvermutet derart hochklassigen Leistungen begegnen zu dürfen. Unser Land bleibt ein Dorado des Musiktheaters, hier ist die Spitze in der Breite aufgestellt. Opernchor und Extrachor des Staatstheaters waren hervorragend. 

Als wir nach der Vorstellung den Platz vor dem Theater betreten, ist die Tristesse in friedvoller Geselligkeit erlöst. Die Abendsonne zaubert die Vision einer bulgarischen Strandpromenade herauf.

Die letzte „Tannhäuser“-Vorstellung im Staatstheater Darmstadt, Georg-Büchner-Platz 1, findet am 15. Juni um 16 Uhr statt. Telefon:  061 51 / 28 11-600

 www.staatstheater-darmstadt.de