© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/17 / 09. Juni 2017

Ängste vor der leeren Fabrik
Industrie 4.0: Vernetzte Systeme von Mensch und Maschine kosten Arbeitsplätze / Lebenslanges Lernen?
Dirk Meyer

Für die einen ist es der Inbegriff von industriellem Fortschritt, für die anderen Synonym einer menschenleeren Fabrik und dem sozialen Abstieg breiter gesellschaftlicher Kreise – die „Industrie 4.0“. Nach der Dampfkraft, der Fließbandfertigung und der speicherprogrammierbaren Steuerung (NC) folgt nun die vierte industrielle Revolution, gekennzeichnet durch digital vernetzte Systeme von Mensch und Maschine auf der Basis des Internet. Technische Assistenzsysteme unterstützen die menschliche Arbeit mit Informationen, bieten Entscheidungshilfen und ermöglichen weitgehend selbstorganisierte Produktionssysteme.

Eingriffe sind vornehmlich auf Ausnahmefälle beschränkt, also bei Störungen oder Zielkonflikten. Kraftwerke, Fertigungsstraßen im Automobilbau oder die Netzsteuerung in der Telekommunikation sind bereits heute Realität. Callcenter, die die richtige Verbindung gemäß einem Algorithmus herstellen und einfache Probleme lösen, sind Alltag. Programme zur Bearbeitung der Einkommensteuererklärung ersparen vielfach den Steuerberater. Rasen- und Saugroboter ersetzen haushaltsnahe Dienstleister. Rechtsfragen werden zunehmend über sogenannte Legaltech programmgesteuert geklärt. Der juristische Dienstleister Flightright bietet Passagieren die Abwicklung von Entschädigungen bei Annullierung, Nichtbeförderung und Verspätung an. Die Basis ist eine Datenbank mit allen Flug- und Verspätungsdaten sowie etwa 35.000 eingespeisten Gerichtsverfahren.

Geht uns also die Arbeit aus? Wird die Gesellschaft in einen kleinen Teil hochqualifizierter Gewinner und einen größeren Part geringqualifizierter Modernisierungsverlierer gespalten? Wird besonders die Mittelschicht betroffen sein – der einfache Anwalt, der Facharbeiter und die technische Assistentin? Oder wird es einen immer größeren Güterberg bei immer weniger Arbeitseinsatz geben: Mehr Wohlstand für alle – zum Teil sogar ohne Beschäftigung?

Vor vier Jahren schreckte eine Studie von Carl Frey und Michael Osborne (Universität Oxford) die Öffentlichkeit auf. Auf Basis einer Expertenbefragung ermittelten die Autoren die Automatisierungswahrscheinlichkeit für 702 Berufe in den USA für die nächsten zehn bis 20 Jahre. Das Ergebnis: 47 Prozent der Amerikaner erleiden mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Arbeitsplatzverlust. Dies betrifft Berufe mit kognitiven und manuellen Tätigkeiten gleichermaßen.

Lediglich technische Grenzen wie die Identifizierung von Fehlern und die Fehlerbehebung, kreativ-intelligente Tätigkeiten des Problemlösens und sozial-intelligente Tätigkeiten wie Verhandeln und Überzeugen oder pflegerische Tätigkeiten verhindern zunächst eine weitere Robotisierung. Langfristig prognostizieren die Wissenschaftler jedoch eine Überwindung dieser technischen Grenzen, so daß in einer zweiten Automatisierungswelle weitere 33 Prozent der Beschäftigten arbeitslos würden.

Ungelernte und Flüchtlinge auf der Verliererstraße?

Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales untersuchte das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) nun mögliche Arbeitsmarkteffekte für Deutschland. Bei gleicher Vorgehensweise ermitteln Holger Bonin, Terry Gregory und Ulrich Zierahn für 42 Prozent der Beschäftigten in Deutschland Berufe mit einer hohen Automatisierungswahrscheinlichkeit. Das Problem dieser Prognosen liegt in der Methodik: Nicht der Beruf, sondern die konkrete Tätigkeit ist für die Automatisierung wesentlich.

Legt man die Tätigkeitsstrukturen zugrunde, so sinkt die Automatisierungswahrscheinlichkeit rapide. In den USA weisen demnach neun Prozent der Arbeitsplätze ein hohes Verlustrisiko auf, in Deutschland trifft es zwölf Prozent der Beschäftigten. Der Grund: In den USA sind mehr Akademiker und Führungskräfte beschäftigt, in Deutschland mehr Bürokräfte und Handwerker, deren Tätigkeiten einer Automatisierung leichter zugänglich sind.

Eine Überschätzung der negativen Beschäftigungseffekte könnte zudem aus der Befragung von Technikexperten herrühren, die die Möglichkeiten neuer Technologien eher positiv sehen. Die Untersuchungen berücksichtigen auch keine gesellschaftlichen, rechtlichen und ethischen Hürden bei der Einführung dieser Technologien. Aktuell zeigt beispielsweise die Diskussion um Fragen der Ethik und der Haftung beim autonomen Fahren, daß vorhandene technische Potentiale keinesfalls immer genutzt werden wollen.

Sodann können berufliche Tätigkeitsprofile neuen Anforderungen angepaßt werden. Als exportorientierter Standort sind für Deutschland die Chancen als Entwickler und Anlagenbauer hervorzuheben, was hochqualifizierte Stellen schafft. Daron Acemoglu (Massachusetts Institute of Technology) und Pascual Restrepo (Yale University) zeigen in einer länderübergreifenden empirischen Analyse für die Jahre 1990 bis 2015, daß die Automatisierung der Produktion eines Landes um so stärker stattfand, je größer der demographische Wandel war. Positive Effekte auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf widerlegten die These einer „säkularen Stagnation“, die in alternden Gesellschaften eine trendmäßige Verlangsamung des Wirtschaftswachstums vorhersagt.

Allerdings hat eine positive Prognose notwendige Voraussetzungen: eine qualifizierte Allgemeinbildung, Flexibilität, ein lebenslanges Lernen mit der Bereitschaft und der Fähigkeit, sich neue Qualifikationen anzueignen, sowie betriebliche und staatliche Bildungsinfrastrukturen, die den neuen Anforderungen gewachsen sind. Minderqualifizierte, das zeigen alle Studien, sind die Verlierer der Industrie 4.0. Schulabgänger ohne Hauptschulabschluß von anteilig sechs Prozent und beruflich nicht integrierte Flüchtlinge setzen diesen Gegenpol. Ein hoher Mindestlohn wirkt als zusätzliche Anpassungslast für diesen Personenkreis.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Beschäftigungsperspektiven 4.0

Wissenschaftler der Hans-Böckler-Stiftung haben in einer Studie zum Thema „Arbeit 4.0“ die Beschäftigungsperspektiven im norddeutschen Dienstleistungssektor untersucht. In Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen seien zwischen 1991 und 2015 ein Fünftel der Industriearbeitsplätze weggebrochen. Im Dienstleistungssektor habe es fast 30 Prozent mehr Erwerbstätige gegeben. Der Online-Handel werde zu „einer Neuaufstellung des Offline-Handels“ führen. Ein Teil der Beschäftigten werde durch Selbstbedienungskassen und digitales Warenmanagement überflüssig. Im Krankenhaussektor werde es zu Verlagerungen von pflegerischen und medizinischen Leistungen durch Telemedizin nach Hause kommen. Der Bedarf an Pflegepersonal werde steigen, da ein Ersatz durch Serviceroboter unwahrscheinlich ist. Digitalisierung und Big Data veränderten in Zukunft allerdings auch den Kernbereich ärztlicher Tätigkeit.

Böckler-Studie „Digitalisierung, Automatisierung und Arbeit 4.0“:  boeckler.de