© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Bankräuber oder auch Mörder?
Gefängnisbesuch (Teil II): Ein JF-Gespräch mit Tino Brandt, ehemals Chef des „Thüringer Heimatschutzes“, über die mutmaßlichen NSU-Täter
Martina Meckelein

Am 26. Januar 1998 durchsuchen Kräfte des Landeskriminalamtes die Wohnungen von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Außerdem eine von Zschäpe angemietete Garage in Jena. An diesem Tag verschwinden alle drei von der Bildfläche. Gerüchte wabern. In der Polizei erzählt man sich später: „Vorne ging die Kripo rein, und hinten wurden die drei vom Verfassungsschutz in die Arme genommen.“ Ein immerwährender Verdacht, daß der Verfassungsschutz schon früh die schützende Hand über die drei Neonazis hielt, die über Jahre als „die Bombenbastler von Jena“ bezeichnet wurden. Immerhin will das LKA vier Rohrbomben und 1,4 Kilo TNT in der Garage sichergestellt haben. Übrigens wurde der Sprengstoff nie untersucht, er soll zur Explosion gebracht worden sein. Der Haftbefehl für die drei wurde zwei Tage später ausgestellt. Da waren sie schon über alle Berge.

„Am Wochenende darauf sammelten wir die ersten 1.000 Mark für die drei auf einem Konzert ein“, sagt Tino Brandt. Wir sprechen den damaligen Kopf des Thüringer Heimatschutzes in der Justizvollzugsanstalt Tonna bei Erfurt. Dort sitzt Brandt wegen Kindesmißbrauchs ein. Über die Zeit vor bald zwanzig Jahren sagt er: „Wir hatten ja keine Unterstützerszene. Wir sind entweder vom Freistaat alimentiert worden, oder wir Jugendlichen haben selbst gezahlt. Manche haben sogar Kredite für die drei aufgenommen.“ Und wie kamen die drei an das gesammelte Geld? „So untergetaucht waren die für uns ja nicht, die Jenaer hatten schließlich Kontakt zu ihnen. Konkreten Kontakt zu den dreien hatten Wohlleben, Kapke und Schultze. Schultze hatte für sie sogar ein Extra-Handy. Kapke hatte mein Auto und fuhr damit das Geld zu den dreien, ich war ja in Coburg. Das muß ein Mitsubishi Pajero gewesen sein, später ein Golf. Ich fuhr die Dinger, bis sie auseinanderbrachen. Die Autos waren Allgemeingut, immer im rechten Einsatz.“

Brandts Hinweis auf Kapkes Fahrten ist insofern interessant, als daß in der 100. Verhandlung im Münchner NSU-Prozeß Tino Brandts ehemaliger V-Mann-Führer Reiner B. aussagte. Hier ein Zitat nach dem Bayerischen Rundfunk: „Nach dem Verschwinden der drei war es doch so, daß wir keine Zugänge hatten im Bereich Jena, deshalb doch auf Brandt zurückgriffen, was nicht unbedingt gutgehen konnte, weil die Quelle Brandt eigentlich nichts in Jena zu tun hatte, sondern nur einen Draht hatte, am besten zu André K. Wir hatten die Hoffnung, daß K. uns mit dem Fahrzeug mit Spurfolgesystem (Peilsender) zu den dreien führt. Es ist uns gelungen beziehungsweise Tino Brandt gelungen, dem K. das Auto unterzujubeln, aber ich meine mich zu erinnern, daß sich K. trotzdem verfolgt fühlte, obwohl das nicht logisch war. Vielleicht sind die wichtigsten in der Szene aber auch immer davon ausgegangen, daß sie verfolgt werden.“

„Die drei hatten in der Szene den Nimbus der Verfolgten“

Eines Tages, Brandt arbeitet in Coburg, klingelte plötzlich auf der Arbeitsstelle sein Telefon. „Ich bekam einen Anruf von Böhnhardt. Ich sollte nach draußen an eine bestimmte Telefonzelle gehen. Dort rief er mich wieder an. Böhnhardt wollte die Summen der Geldsammlungen detailliert wissen. Ich nannte sie, wieviel, weiß ich nicht mehr. Aber es stellte sich heraus, daß Kapke von dem gesammelten Geld mindestens 5.000 Mark veruntreut hatte. Böhnhardt sagte, das geht so nicht, es müßten Konsequenzen gezogen werden. Diese Aktion habe ich dann an den Verfassungsschutz gemeldet.“ Doch das scheint, sollte Brandt sich nicht getäuscht haben, den Verfassungsschutz gar nicht interessiert zu haben.

Die Konsequenz war, daß statt Kapke nun Wohlleben fuhr. Denn Geld wurde zur Unterstützung der drei weiter in der rechten Szene gesammelt. „Über Waffen haben wir aber nie gesprochen“, sagt Brandt. „Ich schließe aus, daß Wohlleben eine Waffe für einen Mord wissentlich weitergegeben hat. Für einen Bankraub kann ich mir das vorstellen. Schließlich war unser Weg zu Anfang radikal, und erst dann haben wir uns hin entwickelt in die NPD.“ Diese Entwicklung, die Brandt für den THS sieht, haben allerdings Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gar nicht mehr mitgemacht. Sie lebten im verborgenen und bekamen nicht nur im Thüringer Heimatschutz einen Heldencharakter.

„Die Untergetauchten hatten in der Szene den Nimbus der Verfolgten des Systems. Das ließ uns alle nicht schlecht dastehen. Der Staat verfolgt uns, und unser politischer Kampf erzeugt Märtyrer. Vor 2000 waren Chemnitzer oder Leute aus Zwickau bei uns auf einer Schulung, die wir in Gera durchführten. Die sagten uns: ‘Übrigens, euren dreien geht es ganz gut.’“ Allerdings entstand durch das Untertauchen der drei in der Thüringer Neonazi-Szene, jedenfalls in Jena, eine Art Vakuum. „Jetzt war ein Teil unseres Führungsteams weg, das hat in unseren weiteren politischen Werdegang nie reingepaßt. Es gab deshalb von uns den Versuch, die drei wieder zurückzuholen. Unser Anwalt witterte allerdings überall in der NPD Verrat. Deshalb hatte er sich eine Vollmacht von Beate geholt, um Akteneinsicht zu bekommen und einen Deal mit der Staatsanwaltschaft auszuhandeln. Wir, das waren Wohlleben, Kapke, Brehme und ich, versuchten, sie in Südafrika oder Rußland, irgendwo, wo böse Neonazis untertauchen können, unterzubringen. Deshalb wollten wir zu Dr. Nordbruch nach Südafrika fliegen. Geflogen sind dann aber nur ich, Brehme und Kapke. Brehme ist heute noch sauer auf Kapke, weil der die Flugkosten nicht zurückgezahlt hat.“ Allerdings wird aus der grenzüberschreitenden Unterbringung bei Claus Nordbruch nichts.

Chaotische Zustände beim Verfassungsschutz 

Dafür begann der Verfassungsschutz wieder nach den Untergetauchten zu suchen. Der Ansprechpartner ist erneut Tino Brandt. „Das Landesamt hat die drei dann, das war um 2000 herum, wieder zum Thema gemacht. Die wollten wohl wieder Schwung in die Sache bringen und sagten mir, sie gäben Geld für die Pässe, 1.500 Mark. Ich sagte denen, daß in der rechten Szene das Thema tot sei, man nicht mehr darüber reden würde. Es war doch so: Wer da nachhakte, wurde schief angeschaut. Ich fragte die vom Landesamt, wie ich das ansprechen sollte? Wenn ich das täte, bräuchte ich Geld.“ Laut Brandt gab ihm der Verfassungsschutz 500 Mark, Brandt quittierte und sprach Ralf Wohlleben noch im Jahr 2001, kurz vor seiner eigenen Enttarnung, auf Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe an. „Ich wollte Wohlleben die 500 Mark für die drei geben. Wohlleben nahm an, daß das privates Geld sei und lehnte ab mit den Worten: ‘Ist nicht mehr nötig, die machen jetzt schon andere Dinge.’ Dann fragte ich, wie es den dreien ginge und ob er etwas von denen gehört habe. Wohlleben sagte nur: ‘Das paßt schon.’ Das Geld wollte das LfV übrigens nicht zurück, das war ja bereits quittiert.“

Was ist das eigentlich für eine Truppe, dieser Thüringer Verfassungsschutz? Auch da muß man tief zurück in die Vergangenheit. Eingerichtet wurde er aufgrund des Thüringer Verfassungsschutzgesetzes im Spätherbst 1991; die Anfänge waren mit 13 Mitarbeitern bescheiden. Ende 1992 hatte der Dienst 40 Mitarbeiter und vier Abteilungen: Zentralabteilung, Beschaffung und Observation, Auswertung, Spionage/Abwehr und Geheimschutz. Unter seinem Präsidenten Helmut Roewer wurde das Amt 1996 in drei Abteilungen gegliedert: Verwaltung, Politischer Extremismus, Nachrichtendienste/Geheimschutz.

Über den Verfassungsschutz urteilt der spätere Thüringer Innenminister Karl Heinz Gasser im sogenannten Gasser-Bericht im Jahr 2000, das Amt sei 1992/93 voll funktionsfähig gewesen. Aber ab 1996 sei „eine Änderung“ eingetreten: „Die Fachaufsicht, die dem Innenministerium oblag, war praktisch über Jahre ausgeschaltet.“ Resümee: „Die Neuausrichtung des LfV in den Jahren 1994 bis 1999 ist mißlungen.“ Unter anderem rät Gasser, das Referat 22 (Rechtsextremismus, seit September 1999 nicht mehr existent) „aus fachlichen und allgemeinpolitischen Gründen“ wieder als selbständiges Referat einzurichten.

Der Bericht sollte die Verfehlungen des Amtes unter seinem Präsidenten Roewer im Auftrag des sich erst knapp ein Jahr im Amt befindlichen Innenministers Christian Köckert (CDU, im Amt von Oktober 1999 bis 2002) untersuchen. Köckerts Vorgänger im Amt war der SPD-Fraktionschef Richard Dewes (SPD). Der war 1994 aus dem Saarland, dort Staatssekretär bei Lafontaine, nach Thüringen gekommen und hatte mit Bernhard Vogel (CDU) als Ministerpräsident eine Große Koalition gebildet. Dewes wollte den Verfassungsschutz abwickeln. In einem Spiegel-Interview vom 23. November 1996, also zwei Jahre später, wird er mit dem Satz zitiert: „Ich plädiere dafür, bis zum Jahr 2000 die Landesbehörden für Verfassungsschutz aufzugeben.“

An Selbstmord der beiden Uwes glaubt Brandt nicht

Ähnliche Kritik kommt vom Thüringer Untersuchungsausschuß zum NSU-Fall: Sei­tens der Po­li­zei seien in den frühen neunziger Jahren die Strafer­mitt­lun­gen bei der sogenannten Sonderkommission „REX“ im Lan­des­kri­mi­nal­amt gebündelt worden. Dies führte zu einer Viel­zahl von Er­mitt­lun­gen, unter anderem auch zu einem Struk­tur­er­mitt­lungs­ver­fah­ren ge­gen den THS we­gen des Ver­dachts der Bil­dung ei­ner kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung. Jedoch, so der Ausschuß, sei aus nicht nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den die­ So­Ko 1997 auf­ge­löst und durch die Ermittlungsgruppe „TEX“ er­setzt worden. Die hatte we­ni­ger Per­so­nal, dafür aber mehr Themen zu be­ar­bei­ten und war, so der Ausschuß, nicht in der La­ge, in glei­cher Wei­se Straf­ta­ten der rech­ten Sze­ne zen­tral zu be­ar­bei­ten.

Es sind auch diese Zustände, die den Thüringer Heimatschutz – in seiner Hochzeit 2001, also bis zur Enttarnung Tino Brandts, hatte er über 170 Mitglieder – zu einer starken Neonazi-Truppe anwachsen ließen. „Klar dachten wir an ein THS-Verbot wegen der häufigen Ermittlungsverfahren gegen uns, aber diese Sprengstoffgeschichte hielt keiner von uns für so eine Riesensache. Im Grunde hat sich die Presse ja auch nicht darauf gestürzt. Und was nicht in der Presse steht, hat auch nicht stattgefunden“, sagt Brandt. „Ohne den Thüringer Verfassungsschutz und das Geld wäre die politische Arbeit nicht möglich gewesen“, so Brandts Einschätzung. „Diese Außenwirkung war ohne das Geld vom LfV jedenfalls nicht möglich.“

Wann hörte Brandt vom Tod Uwe Böhnhardts und Uwe Mundlos’? „Ich war mit dem Auto von Jena nach Hause unterwegs. Da hörte ich im Radio, daß ein Wohnmobil in Eisenach ausgebrannt sei und es zwei Tote aus der rechten Szene gegeben hätte. Ich bin erst mal mit dem Wagen rechts rangefahren.“

Brandt glaubt nicht, daß sich Böhnhardt und Mundlos im Wohnwagen in Eisenach-Stregda selbst getötet haben. „Klar war das dann Thema in der rechten Szene. Dort hält sich die Theorie, daß es sich um eine schiefgelaufene Vertuschungsaktion handelt. In der Szene hätten wir uns übrigens alle lustig gemacht, wenn Vermutungen laut geworden wären, die drei hätten mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet. Ich persönlich kann es mir bei Böhnhardt nicht vorstellen. Der hätte jeden gelyncht, der das behauptet hätte, und bei Mundlos kann ich es mir ebenfalls nicht vorstellen.“ Ob Brandt denn keine Angst hat, womöglich noch vor dem Oberlandesgericht in München angeklagt zu werden? „ Wenn die mich anklagen, müssen die auch den Verfassungsschutz anklagen!“





Widersprüche im „NSU“-Fall

An keinem der verschiedenen Tatorte, an keiner Tatwaffe wurden DNS-Spuren oder Fingerabdrücke von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gefunden, kein Augenzeuge konnte beide als Täter identifizieren.

In den Lungen der Leichen im Wohnwagen wurde kein Ruß gefunden. Wer hat dann das Feuer gelegt? Warum behauptete der frühere BKA-Chef Zierke am 21. November 2011 im Innenausschuß des Bundestages das Gegenteil?

Das Abschleppen des Wohnmobils führte zur Zerstörung von Spuren.

Dem „NSU“-Ausschuß in Baden-Württemberg (Polizistenmord) sind bisher sechs Zeugen gestorben. 

2005 soll Thomas Richter alias Corelli, Spitzel des Bundesamtes für Verfassungsschutzes, dem Amt eine CD mit der Aufschrift „NSU“ übergeben haben. Sie wurde nie ausgewertet. Bevor er dazu vernommen werden konnte, starb er 2014 an einem plötzlichen Zuckerschock.

Das wichtigste Beweismittel im NSU-Prozeß ist, so Generalbundesanwalt Herbert Diemer, das „Bekennervideo des NSU“. Zschäpe soll es selbst per Post verschickt haben.