© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

Mehr Wirkung als ein ganzes US-Luftgeschwader
Der Kremlflug von Mathias Rust kam Michail Gorbatschow insgeheim sehr gelegen: Vor 30 Jahren landete eine Cessna am Roten Platz in Moskau
Jürgen W. Schmidt

Am 28. Mai 1987 glaubten viele Russen und ausländische Touristen ihren Augen nicht zu trauen. Um 18.40 Uhr landete eine einmotorige Cessna-Sportmaschine am Roten Platz und kam unmittelbar neben der Basilius-Kathedrale zu stehen. Der aus dem Flugzeug kletternde Pilot Mathias Rust, 1968 in Wedel geboren, redete von einer Tat für den „Weltfrieden“ und wurde von ungemein höflichen KGB-Männern abgeführt. Obwohl er bis zu seiner Begnadigung 432 Tage in Haft verbrachte und es zu keinem persönlichen Treffen mit Generalsekretär Michael Gorbatschow kam, klagte Rust später nicht über seine Behandlung in der Sowjetunion. 

Die einfachen Sowjetbürger hingegen waren entsetzt. Ausgerechnet am „Tag der Grenztruppen“ hatte sich ein ausländisches Flugzeug mehrere Stunden anscheinend unbemerkt im sowjetischen Luftraum befunden und war dann im Zentrum der Macht, unmittelbar am Moskauer Kreml, gelandet. Daß Verteidigungsminister Marschall Sergej Sokolow, Luftverteidigungschef Hauptmarschall der Flieger Alexander Koldunow sowie etwa 300 weitere Offiziere vom ergrimmten KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurden, fand man in der Sowjetunion mehr als angemessen. 

Gorbatschow konnte jetzt die Armeeführung zügeln

Leider waren selbst damals Perestroika und Glasnost nicht so weit fortgeschritten, daß die Sowjetbürger in den Medien die Wahrheit über den „Kremlflug“ lesen konnten. Natürlich hatte die wachsame sowjetische Luftverteidigung mit ihren Ortungssystemen Mathias Rust sofort erfaßt, und Jagdflugzeuge begleiteten seinen gesamten Flug von der finnischen Grenze bis Moskau. Doch den schnellen Mig-Jägern gelang es geschwindigkeitsbedingt nicht, sich vor die langsame Cessna zu  setzen und durch Flügelwackeln deren Landung erzwingen. 

Angesichts des äußerlich harmlosen Kleinflugzeugs konnte man sich aber auch nicht zum Abschuß durchringen. Zu tief steckte dem sowjetischen Militär noch der Schrecken über den Abschuß einer südkoreanischen Boeing 747 am 1. September 1983 über Sachalin in den Gliedern. Damals glaubte man, alles richtig gemacht und entsprechend dem Völkerrecht gehandelt zu haben und war von der weltweiten Empörung völlig überrascht. Diesmal meinte das Militär mit mehr Augenmaß handeln zu müssen, zumal das Kleinflugzeug keine echte Bedrohung auszustrahlen schien. Daß der Flugzeugführer unmittelbar im „Vorgarten“ des Generalsekretärs zu landen beabsichtigte und westliche Touristen die einmalige Szene auf Video festhielten, konnte man freilich nicht voraussehen. 

Wie heute aus den Erinnerungen von Gorbatschow-Berater Valentin Falin bekannt wurde, kam der Vorfall Parteichef Gorbatschow gerade recht, um das selbstbewußt agierende Militär zu zügeln und fester an die Kandare zu nehmen. Vom Volkszorn getragen, köpfte der Generalsekretär die militärische Führungsschicht und ersetzte sie durch eine Reihe ihm höriger Militärs. Insofern hatte, wie Falin später spitzzüngig schrieb, die „leichtmotorige Cessna von Mathias Rust eine Wirkung, um die sie ein ganzes Geschwader der strategischen Luftwaffe der USA beneiden konnte“. 

Letztlich nahm es mit allen Beteiligten des Vorfalls ein mehr oder weniger schlechtes Ende. Marschall Sokolow verstarb 2012 im Alter von 101 Jahren in Ungnade in Moskau. Mathias Rust versuchte sich als Kellner in Moskau und professioneller Pokerspieler. Wegen Totschlagversuchs im minderschweren Fall und Diebstahls wurde er gerichtlich bestraft. Präsident Gorbatschow verlor 1991 die politische Macht und lebt heute, vom eigenen Volk fast vergessen, in Rußland. Die zum Kremlflug verwendete Cessna P 172 hingegen ist seit 2009 als Exponat im Berliner Technikmuseum zu bestaunen.