© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

Ein kämpferischer Gelehrter
Geistesgeschichte: Der Schriftsteller Rüdiger Safranski erhält am Sonntag den Ludwig-Börne-Preis
Matthias Matussek

Um Rüdiger Safranski, den neuen Börne-Preisträger zu erklären, nimmt man am besten die Eingangsfrage des großen Interviews, das er Anfang Mai der Neuen Zürcher Zeitung gegeben hat: „Herr Safranski, Sie sind das, was man einen Gelehrten nennt. Das ist eine Profession, für die uns kein moderneres Wort einfällt. Sie leben in Ihrer Privatbibliothek, umgeben von Freunden, die Sie nie gekannt haben. Erachten Sie Ihre Existenzform als zukunftsträchtig, oder zählen Sie sich zu den Letzten Ihrer Art?“

Safranskis Antwort zögernd zustimmend, weil sie eine Freiheit behauptet, die selten geworden ist: die der Entschleunigung. Er nimmt sich Zeit für Sachen. Ich hatte das Glück, in seinem schönen klassizistischen Haus in Badenweiler eingeladen zu sein, hohe Räume, deren Schmuck im wahrsten Sinne des Wortes aus Bücherwänden besteht bis unter die Decke, und tatsächlich viel freier Raum, in dem sich lesen und denken läßt (im übrigen auch exzellent tafeln).

Der Gelehrte, der nebenbei ein vorzüglicher Witzeerzähler ist und der von Anekdoten aus dem Leben der großen Denker überquellt, wäre eine ziemlich gute Antwort auf das, was deutsch ist: Er hat es ihnen erklärt, in seinen Biographien über Nietzsche und Schopenhauer, Heidegger und Schiller, Goethe vor allem, diesem „Kunstwerk des Lebens“, deutsche Geistesgeschichte, brillant erzählt und erklärt, und er hat damit tatsächlich ein Massenpublikum erreicht, ohne, im Sinne der Verständlichkeit, Abstriche an der Komplexität oder Dunkelheit seiner Stoffe zu machen. Er hat sie erklärt, nicht verraten. Mit dem promovierten Literaturwissenschaftler Safranski lernt man die Abenteuer des Denkens, und man lernt sie zu lieben und zu bestaunen. Johann Gottlieb Fichte und das Ich. Fichte sagt: Setzt euch vor eine weiße Wand, alles was nicht Wand ist, ist das Ich. Und es ist verbürgt Fichte.

Durch Safranski habe ich die „Romantik“, die er im Untertitel „eine deutsche Affäre“ nennt, erst richtig verstanden, wiewohl mir mein Hausheiliger Heinrich Heine schon vorher gut vertraut war. Aber Safranski erzählt die Vorgeschichte (Schelling, Novalis, Eichendorff) und die Nachgeschichte (Marx), später dann die messianischen Figuren der Jahrhundertwende, der verrückten Prediger und Lebenserneuerer bis hin zu den faschistischen Vordenkern, wobei er sehr richtig zu bedenken gibt, daß das industrielle Massentöten keine Konsequenz, sondern ein Widerspruch zum romantischen Gedanken ist: jenes war von einer grausamen „Rationalität“, während die Romantik ja geradezu der großangelegte Aufstand gegen das Nützlichkeitsdenken und die Vernunft der beginnenden Industrialisierung war. Getreu Novalis’ Wort: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man andere nie wahrhaft verstehen lernen.“

Die Welt als Wunder erleben, davon hat noch Chesterton in seinen großen Essays über den Glauben und den gesunden Menschenverstand gezehrt: Vollständig ist der Mensch nur, wenn er beides beherbergt, Verstand und Wundersinn. Es ist das Zwei-Kammern-System, das Safranski bei Nietzsche gefunden hat: in der einen wird eingeheizt und in der anderen herabgekühlt, in der einen wächst das Schöne bis hin zum Irrsinn, doch die andere sorgt, daß es soweit abgekühlt wird, daß uns das Leben gelingt.

Nun versteht man Safranski schlecht, wenn man annimmt, er begnüge sich mit einer biedermeierlichen Gelehrtenstille. Er nimmt Stellung nach Nietzsches Motto: „Nur im Angriff ist klingendes Spiel.“ Insofern geht der Ludwig-Börne-Preis, der dem kämpferischen Vormärz-Polemiker gegen die Fürstenherrschaft und den Metternich-Staat gewidmet ist, an eine Idealbesetzung. 

Safranski nämlich hat eine durchaus kämpferische Vergangenheit. So wie er Anfang der 1970er Jahre in einer K-Gruppe, die sich stolz KPD-Aufbauorganisation nannte, dem „herrschenden System“ den Kampf ansagte, so tut er das auch heute, nur mit verkehrten Vorzeichen. Er ist heute so etwas wie eine Symbolfigur des Widerspruchs zum alles erstickenden sozialdemokratisierten Zeitgeist, der alles so gut meint. 

Er ist, so sagte er mir im September 2015 während der Flüchtlingskrise in einem Interview, gegen die „Überflutung des Landes“ mit kulturfremden, gegenaufklärerischen, islamischen, frauenfeindlichen und antisemitischen „Flüchtlingen“ beziehungsweise Wirtschaftsimmigranten, wofür er prompt vom Berliner Tagesspiegel in eine rechtsextreme „Stahlhelm“-Fraktion eingemeindet wurde.

Er erklärte mir während eines Essens, wie ihm das Wort „Flutung“ in den Sinn kam, eine assoziative Pointe, die meilenweit entfernt war von der Hornochsendeutung der Tagespresse. Er beschäftigte sich damals gerade mit der erstaunlichen Zeitgleichheit der Erfindung der Psychoanalyse mit der Trockenlegung und Landgewinnung der Niederlande, einem dieser fabelhaften, lebensweltlichen Bilder, mit denen seine Bücher gespickt sind. Da ist das feuchte Element, das Sumpfige, Trübe, das uns umgibt, während wir um Ichgewinnung, um Landgewinnung kämpfen, gegen die Überflutung, und sei es auch die des gemütlichen Gutseins.

Safranski, ein Rechtsextremer? Er lacht. Er nimmt diese Art juveniler Kampfpresse nicht ernst. Zeitungen wie die NZZ schon. Und der gab er durchaus klare Antworten, die nicht im Trüben fischen: „Die Deutschen sind in der Pubertät.“ Rüdiger Safranski beklagt den „normativen Druck“, dem sich heutzutage Journalisten ganz offensichtlich ausgesetzt fühlen, ja, dem sie sich zuvorkommend beugen, wie es in der lachhaften publizistischen Begleitmusik der Regierungspolitik während der Flüchtlingskrise offenbar wurde.

Ludwig Börne hätte ihm, diesem mutigen, stilistisch glänzenden Freigeist, sicher zugestimmt. Im übrigen ist Börne öffentlich über Heine hergezogen und der über ihn: die Literaturgeschichte verdankt den beiden „Hate Speech“ auf höchstem Niveau!






Matthias Matussek, Jahrgang 1954, arbeitete von 1987 bis 2013 beim Spiegel, danach für die Welt. Heute schreibt er als freier Autor unter anderem für die Weltwoche (Zürich).

 www.matthias-matussek.de

Rüdiger Safranski

Im württembergischen Rottweil am 1. Januar 1945 zur Welt gekommen, besuchte Rüdiger Safranski das dortige humanistische Gymnasium und studierte Philosophie, Germanistik, Geschichte sowie Kunstgeschichte in Frankfurt am Main und Berlin. Von 1972 bis 1977 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Germanistik der Freien Universität, danach als Dozent in der Erwachsenenbildung. 1976 promovierte er mit der Arbeit „Studien zur Entwicklung der Arbeiterliteratur in der Bundesrepublik“. Seit 1987 ist er als Schriftsteller in Berlin tätig. Erfolg bescherten Safranski vor allem seine Biographien über E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer, Heidegger, Nietzsche, Schiller und Goethe. Zuletzt veröffentlichte er 2015 das Buch „Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen“ (Hanser). Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Thomas-Mann-Preis. Seit 2012 lehrt Rüdiger Safranski als Honorarprofessor am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin.

Ludwig-Börne-Preis

Der mit 20.000 Euro dotierte Ludwig-Börne-Preis wird seit 1993 an deutschsprachige Autoren für hervorragende Leistungen im Bereich Essay, Kritik und Reportage verliehen. Über den Preisträger entscheidet ein vom Vorstand der gleichnamigen Stiftung benannter Preisrichter in alleiniger Verantwortung; in diesem Jahr war es der Schauspieler Christian Berkel. 

Die Auszeichnung erinnert an den im jüdischen Ghetto in Frankfurt am Main geborenen Journalisten Carl Ludwig Börne (1786–1837). Der Literatur- und Theaterkritiker gilt wegen seiner anschaulichen, zuweilen scharfzüngigen Prosa als Wegbereiter des modernen Feuilletons.

Zu den bisherigen Börne-Preisträgern gehören unter anderem Marcel Reich-Ranicki, Joachim Fest, Rudolf Augstein, Hans Magnus Enzensberger, Henryk M. Broder, Alice Schwarzer, Frank Schirrmacher, Joachim Gauck und Peter Sloterdijk. Die Verleihung an Rüdiger Safranski findet am 28. Mai in der Frankfurter Paulskirche statt.

 http://boerne-stiftung.de