© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/17 / 19. Mai 2017

Zeitgenössisches bizarr altmodisch
Biennale Venedig: Anstatt entleerter Großprojekte wäre es Zeit für eine Revision des Kunstschaffens
Sebastian Hennig

Am Wochenende wurde in Venedig die 57. Biennale eröffnet. Eine weitere Werkschau dieses Ausmaßes wird im Juni in Kassel folgen: die 14.  „documenta“. Nach eigenen  Angaben handelt es sich dabei um die „weltweit bedeutendste Reihe von Ausstellungen für zeitgenössische Kunst“. Der florierende Fremdenverkehr erstickt jede Frage danach, inwieweit solche Ausstellungen ihrem dokumentarischen Anspruch noch gerecht werden.  

Die erste Internationale Kunstausstellung der Stadt Venedig eröffnete 1895 König Umberto I. Der Zeitgeist zielte damals auf eine Weltausstellung für die Künste. Die war von Anfang an ein Publikumserfolg. Nach und nach wurden die Länderpavillons errichtet. Die beste Zeit erlebte die Biennale von 1910 bis 1948. In den Preisträgern dokumentierte sich tatsächlich eine Meritokratie der Bildenden Künste. Erwähnt sei nur das Beispiel einer über Jahrzehnte sich erstreckenden Konstellation der malerischen Qualität.

Als 1922 Oskar Kokoschka den Internationalen Preis erhält, schlug er Gior-gio Morandi vor, dem diese Ehrung dann 1948 zuteil wird. Gleichfalls von Kokoschka gerühmt wurde um diese Zeit ein junger Absolvent der Dresdner Kunstakademie. Mit dem Lebenswerk des alten Theodor Rosenhauer (JF 5/11) präsentierte sich die DDR in den achtziger Jahren in Venedig. Paradoxerweise konnte sich die marxistische Kulturtheorie zuletzt der Dialektik von fortschrittlicher und reaktionärer Kultur stärker entziehen, als es bis heute im Westen der Fall ist. Bei ihren eigenen zentralen Kunstausstellungen ging die realsozialistische Kulturbürokratie zuletzt im Streben nach Vollständigkeit so weit, daß sie Werke von Künstlern, die sich ihren Leistungsschauen entzogen, als Leihgaben aus der Bundesrepublik holte. Als der Vorsitzende Willi Sitte dem jüngst verstorbenen A. R. Penck goldene Brücken in den offiziellen Berufsverband bauen wollte, wollte der nicht beitreten, weil er damit im Westen seinen rebellischen Nimbus eingebüßt hätte.

Völlig beziehungslos zur Wirklichkeitserfahrung

Der Kalte Krieg wurde in der Kultur nie beendet. Anstatt bildnerische Qualitäten herauszustellen, ziehen die Kuratoren Munition und Truppen zusammen im Feldzug für Demokratie, Fortschrittlichkeit und Menschenrechte gegen die teuflischen Mächte einer kulturellen Reaktion, die heute beispielsweise in Putins Rußland und Orbáns Ungarn verortet wird. Vom künstlerischen Rahmenprogramm zur Bundesgartenschau, das seinem Namen noch gerecht wurde, ist die „documenta“ zu einer Hauptbasis in diesem Abwehrkampf geworden. Das mit Zonenrandförderung unterstützte Ereignis war 1955 keineswegs die einzige und schon gar nicht die erste Ausstellung, welche nach Kriegsende eine zuvor geächtete Kunst zeigte. Bereits 1946 und 1949 hatte die „Allgemeine Deutsche Kunstausstellung“ in Dresden viel Publikum angezogen. Erst die dritte Dresdner Ausstellung markierte 1953 den Übergang zur hohlen Staatspropaganda mit naturalistischer Ausrichtung.

Doch die „documenta“ blieb in der Folgezeit ebenfalls umfassende Auskunft über die Tendenzen zeitgenössischer Kunst schuldig. Als Anzeichen von Kunstfreiheit galt nun ausschließlich die Ungegenständlichkeit, das heißt die völlige Beziehungslosigkeit der künstlerischen Darstellung zu einer leiblichen Wirklichkeitserfahrung. Das beinhaltete kaum weniger Doktrin als auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Es sollte damit die Vorstellung einer spezifisch fortschrittlich-demokratischen Kunsttradition zementiert werden, die freilich ebensowenig repräsentativ für das war, was in den Ateliers geschah, wie der andernorts erwünschte sozialistische Realismus. Hier wie dort wurde eine kulturpolitische Linie eingekerbt. Wenn schon nicht die tatsächliche Vielfalt der Kunst ausgetrocknet werden konnte, so wurde doch deren Wahrnehmung kanalisiert. Bis heute ist es ein Tabu, daß auch im Westen der Konformitätsdruck Künstler gebrochen, in die Isolation oder den Selbstmord getrieben und Lebenswerke verunmöglicht hat.

Dem von Francis Fukuyama 1992 verkündeten „Ende der Geschichte“ ging im Jahrzehnt zuvor das Ende der Kunstgeschichte voraus. Sieben Millionen Mark wurden 1981 in die von  Laszlo Glozer und Kasper König autorisierte Großausstellung „Westkunst“ mit dem Untertitel „Zeitgenössische Kunst seit 1939“ gesteckt. Die Mammutausstellung in den Messehallen Köln wurde durch zwanzig Kölner Galerien und ein neunteiliges Filmprojekt des WDR flankiert. Mit seinem Diktum von der „unverbrauchten Kunst “ insinuierte Glozer, daß es sich bei den unberücksichtigten Positionen nur um eine Art toxische Gammelkunst handeln könne, die besser zu entsorgen sei. 

Nun gibt es in der Kunstwelt immer vorherrschende Meinungen, die stets von der Praxis in den Ateliers überholt werden. Bestenfalls werden diese Grundsätze alle fünfzig Jahre einer Prüfung unterzogen. Eine solche Revision bewirkte beispielsweise 1906 die große Jahrhundertausstellung der Berliner Nationalgalerie. Die Absicht von Hugo von Tschudi und Woldemar von Seydlitz, ein gültiges Abbild der deutschen Malerei zwischen 1785 und 1885 zu vermitteln, ging großartig in Erfüllung.

Feigheit, Unkenntnis und Desinteresse der Kuratoren

Alles was heute für diese Epoche als beispielhaft gilt, wurde hier zum ersten Mal in seinem Wert anschaulich gemacht und rückte zügig in die Museen ein. Der blendende Schein der bisherigen Malerfürsten wie Achenbach, Makart und Piloty begann zu verblassen, ganz so als würden heute Gerhard Richter, Georg Baselitz und Markus Lüpertz plötzlich auf die hinteren Ränge rücken müssen. Die Museen zwischen Posen und Köln kauften in der Folge Gemälde von Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge, von Hans von Marées, Wilhelm Leibl und Carl Schuch, um deren Vorzüge öffentlich in ihren Sammlungen herauszustellen. 

Die Leitung der Nationalgalerie wirkte damals entgegen den obrigkeitlichen Vorlieben. Der kaiserlichen Hoheit paßte die ganze Richtung nicht. Aber sie ließ Fachleute gewähren. Berlin war das erste Museum, welches Gemälde von Paul Cézanne erwarb, lange bevor Frankreich seinen großen Sohn erkannte. Heute dagegen herrscht weithin Feigheit, Unkenntnis und Desinteresse der Museumsdirektoren und Kuratoren an ihren Aufgaben. Die Generaldirektorin der staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Marion Ackermann, tat in der Sächsischen Zeitung bei ihrem Antritt die Befürchtung eines weiteren kulturpolitisch motivierten Profilverlusts der Sammlung mit der Bemerkung ab, ohne den Mut zu Neuem besäße das Albertinum heute nicht die beliebten Gemälde von Caspar David Friedrich. Damit lag sie faktisch total daneben. Denn Dresden hatte vor 1909 kein einziges Bild ihres berühmtesten Malers in seiner Sammlung.

Fünfzig Jahre nach der Jahrhundertausstellung von Berlin ereignete sich mit den Ausstellungen in Dresden und Kassel wieder eine fällige Korrektur. Welche Erkenntnis aber wollen uns heute die überlebte Biennale und die bizarr altmodische „documenta“ vermitteln? Inmitten der Selbstherrlichkeit der Kuratoren und dem Klüngel der Szene ist kein Streben zu erkennen, zur Einsicht bleibender künstlerischer Leistungen in jüngster Vergangenheit durchzudringen. Die Ausstellungen bleiben reines Entertainment.

Vielleicht fürchten auch die inzwischen zu Kapitalanlegern mutierten Kunstsammler, daß der Verkehrswert ihrer Bilderaktien an der Wertschätzung von bisher unterschlagenen Leistungen verlieren könnte. Es wäre dann möglich, daß die staatlichen und städtischen Museen von Aachen bis Görlitz nun Bilder von Harald Metzkes und Peter Schermuly anschaffen, wie sie es vor hundert Jahren mit Caspar David Friedrich und Carl Schuch getan haben, die ebenfalls zuvor als kauzige Außenseiter galten und nur wenigen Kennern überhaupt bekannt waren.

Das Publikum hätten diese unverbrauchten Bilder gewiß auch diesmal wieder auf ihrer Seite. Das wäre dann freilich eine ganz unspektakuläre, aber um so folgenreichere Sensation. Das Zeitalter der Biennalen und Documentas wäre dann zu Ende und etwas Neues begönne.