© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/17 / 19. Mai 2017

Pankraz,
Landgraf Heinrich und das grüne Herz

Hört „das grüne Herz Deutschlands“ jetzt bald auf zu schlagen? In Thüringen, das sich bekanntlich seit Generationen mit diesem schönen Titel schmückt, ist genau das der Wunsch zahlreicher Politiker und sonstiger Regionalstrategen (JF 20/17). Das Land leide unter rapidem Bevölkerungsschwund und Überbürokratie, jeder Ansatz zu einer vernünftigen Gebietsreform bleibe im Gezänk der Parteien stecken. Thüringen sollte so bald wie möglich zwischen den es umgebenden übrigen Bundesländern aufgeteilt werden.

Man könnte das Ganze als Lokalposse abtun, aber es stecken auch einige sehr ernste Gründe dahinter, die zudem tief in die Geschichte hineingreifen und Fragen nach der zur Zeit in vielen Kreisen so heiß diskutierten „Identität“ aufwerfen. Es geht bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen, ob man es glauben will oder nicht, tatsächlich in erster Linie  um die historische Identität der Thüringer. Nicht die nach 1945 beziehungsweise 1989 schnell und künstlich zusammengebastelten Bundesländer wie etwa NRW oder Mecklenburg-Vorpommern haben ein Identitätsproblem, sondern eben Thüringen, und zwar schon seit tausend Jahren!

Niemand weiß anzugeben, wer die Ur-Thüringer eigentlich waren und woher sie kamen. Zum ersten Mal erwähnt werden sie im 4. Jahrhundert von dem römischen Historiker Flavius Vegetius Renatus, der die von ihnen gezüchteten Pferde rühmt, welche angeblich besser waren als die der durchziehenden Hunnen und Burgunder. Später fielen die großen, staatsgründenden Stammesgemeinschaften der Franken und der Sachsen in ihr Gebiet ein und löschten sie aus, assimilierten oder vertrieben sie. Nur ihr Name blieb; ihr Land wurde aufgeteilt zwischen Franken und Sachsen. Der Rennsteig war die Grenze zwischen beiden.


Dabei ist es bis heute geblieben, man kann es höchst eindrucksvoll erleben, wenn man vom „sächsischen“ Arnstadt im Nordosten über den Rennsteig ins „fränkische“ Sonneberg im Südwesten fährt. Hier  breitester sächsischer Dialekt, man kommt sich wie in Leipzig oder Weimar vor: dort breitester fränkischer Dialekt, man kommt sich wie in Würzburg oder Nürnberg vor. Und der Dialekt ist eindeutig Ausdruck innerer Gefühlslagen. Hier wie dort fühlt man sich nicht in erster Linie als Thüringer, sondern als Sachse respektive Franke. Es ist, modern gesprochen, eine Frage der Identität.

Zur Zeit kursieren in Sonneberg, Meiningen oder Hildburghausen Unterschriftenlisten, in die man sich eintragen kann, wenn man „los von Thüringen“ will. Die Zahl der Einträger, so ist zu vernehmen, schwillt immer weiter an. Freilich will man ausdrücklich nicht ins benachbarte Bayern übertreten, sondern „nach Franken“. Und in Würzburg, erfährt man, kursieren Listen, in denen ein „Los von Bayern“ gefordert wird. Erwünscht ist ein eigenes, von Bayern unabhängiges Bundesland Franken, das von Nürnberg bis Aschaffenburg reichen soll, einschließlich „Thüringens dieseits des Rennsteigs“.

Für die „Franken“ von Sonneberg und Umgebung spielt noch eine spezielle historische Erinnerung eine Rolle, die ihre Übertrittssehnsüchte ungemein befördert. Als nämlich nach dem Ersten Weltkrieg die Königreiche und Herzogtümer des Reiches abgeschafft und neue, republikanische Länder geschaffen und abgesteckt wurden, fielen Stadt und Landkreis Coburg, die bis dato zum thüringischen Großherzogtum Sachsen-Coburg-Gotha gehört hatten, an Bayern. Das war damals ein schlichter Verwaltungsakt, der wenig Aufregung weckte, da die Verhältnisse hüben wie drüben im wesentlichen gleich blieben. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch, als die siegreichen Alliierten Deutschland in Besatzungszonen aufteilten, kam Coburg als Teil Bayerns zur amerikanischen Zone, der Rest des ehemaligen Herzogtums wurde hingegen Sowjetzone. Plötzlich fühlten sich die Coburger ungeheuer privilegiert und glücklich. Sie gehörten zum Westen, mit all den Freiheiten und Chancen, die dieser Status bot – während die armen Gothaer Staatsterror und wirtschaftliche Versumpfung ertragen mußten. Solche Folgen, so lernte man, kann also eine simple Gebietsreform in sich bergen; man muß auf der richtigen Seite wohnen.


Ist das Thüringen von heute deshalb aber ein „failed state“, der Gebiete abgeben oder am besten gleich ganz verschwinden sollte? Davon kann im Ernst nicht die Rede sein. Es stimmt lediglich, daß es direkt politisch nie eine maßgebende Rolle gespielt hat. Es blieb Spielball zwischen den fränkischen Merowingern und den sächsischen Ottonen, und als letztere die Oberhand gewonnen hatten, richteten sie in Thüringen eine „Landgrafschaft“ ein,  deren Inhaber stets zur direkten Gefolgschaft des (meist ottonischen) Kaisers gehörten. In der frühen Neuzeit teilten dann sächsische Herzöge das Land regelrecht unter sich auf.

Das ist aber nur die eine, die unwichtigere Seite der Geschichte. Auf der anderen stehen die kulturellen Großtaten, die die Thüringer und ihre Landgrafen und Herzöge vollbrachten: die von Landgraf Heinrich Raspe im 13. Jahrhundert organisierten Sängerkriege auf der Wartburg, das Erblühen der Musikantendynastie Bach in Eisenach, die Weimarer Klassik unter Herzogin Anna Amalia und Herzog Carl August, die Jenaer Romantik, die wundersame Spät- und Nachblüte der Klassik am Ausgang des 19. Jahrhunderts, welche von Namen wie Henry Clement van de Velde oder Harry Graf Kessler geschmückt ist.

Alle diese Namen, deren Anzahl fast beliebig verlängert werden könnte, laden zu Identifizierung und eigener Identitätsfindung geradezu ein. Sie bringen einem zu Bewußtsein, daß das vielbesungene „grüne Herz Deutschlands“ vor allem ein Organ der Selbsterkenntnis und der Lebensfreude ist, welches von verbissenen Gebietsreformern kaum zum Stillstand zu bringen ist. Und was den Rennsteig betrifft, so ist er gewiß nicht in erster Linie Trennlinie zwischen Franken und Sachsen, sondern Wanderweg für alle Deutschen und ihre Gäste.