© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/17 / 19. Mai 2017

Notwendig, nicht hinreichend
EU-Politik: Das „Weißbuch zur Zukunft Europas“ hat durch Emmanuel Macron an Brisanz gewonnen / Brexit verschiebt die Brüsseler Statik
Dirk Meyer

Die erste Auslandsreise als französischer Staatspräsident führte Emmanuel Macron erwartungsgemäß nach Berlin. Und der Wunschkandidat der EU und der Bundesregierung wurde nicht nur von zahlreichen Schaulustigen vor dem Kanzleramt, sondern auch offiziell besonders herzlich empfangen: „Deutschland wird es auf Dauer nur gutgehen, wenn es Europa gut geht. Und Europa wird es nur gutgehen, wenn es ein starkes Frankreich gibt“, erklärte Angela Merkel. Angesichts des Brexits habe man vereinbart, eine neue „mittelfristige Perspektive der Europäischen Union“ zu entwickeln.

Macron gab sich konkreter: EU-Vertragsänderungen seien für ihn kein „französisches Tabu“ mehr. Eine „Vergemeinschaftung vergangener Schulden“ lehne er ab, denn das führe „zu einer Politik der Verantwortungslosigkeit“. Doch die Eurozone brauche dennoch jetzt „eine entschlossene Investitionspolitik“. Man müsse „neues, frisches Geld einbringen und Haushaltsmittel haben“. Das läßt sich als Ruf nach Eurobonds für künftige Schulden interpretieren.

Haftungsgemeinschaft birgt große Gefahren

Wie die EU mittelfristig konkret aussehen könnte, läßt sich aber schon jetzt im „Weißbuch zur Zukunft Europas“ nachlesen, das EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorgelegt hat. Eine begrüßenswerte Initiative – notwendig, allerdings nicht hinreichend. Notwendig ist der Vorstoß Junckers, die „Verwirklichung einer immer engeren Union“ (Artikel 1 EU-Vertrag) in Frage zu stellen. Positiv fällt auch der ergebnisoffene Prozeß auf, in dem die Mitgliedstaaten bis zur Tagung des EU-Rats im Dezember erste Schlußfolgerungen dieser Debatte für die Zeit bis 2025 treffen sollen. In fünf Szenarien werden unterschiedliche Grade der Integration, daraus ableitbare Handlungsfelder sowie Vor- und Nachteile angeführt.

Szenario 1 „Weiter wie bisher“ setzt den eingeschlagenen Weg mit einer Stärkung des Binnenmarktes, der Bankenunion und der Wachstumsförderung sowie der Fortentwicklung der Politikfelder Verteidigungszusammenarbeit, Außenpolitik, Grenzmanagement und einem gemeinsamen Asylsystem fort.

Szenario 2 „Schwerpunkt Binnenmarkt“ legt die Prioritäten auf die Marktintegration sowie den Abbau von Regulierungen. Eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit bildet die Grundlage, ohne den Ausbau gemeinschaftsweiter Politikfelder voranzutreiben. Ausdrücklich werden Gefahren für die Euro-Währung ohne eine vertiefte fiskalische Integration hervorgehoben.

Szenario 3 „Wer mehr will, tut mehr“ ist ein Plädoyer für ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten. Mit dem Euro- und Schengensystem ist es de facto Realität und in Grundstrukturen durch die Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit (Artikel 20 EUV) bereits angelegt. Während Angela Merkel diesen Weg für erfolgsversprechend hält, befürchten Polen sowie die ost- und nordeuropäische Staaten an den Rand gedrängt zu werden.

Gemäß Szenario 4 „Weniger, aber effizienter“ beschränkt die EU die Integration auf wenige Politikfelder. Dies könnten beispielsweise die Bereiche Innovation, Handel, Sicherheit, Migration, Grenzmanagement und Verteidigung sein. Demgegenüber würden Verbraucher-, Umwelt- und Arbeitsschutz bei den Mitgliedstaaten verbleiben.

Szenario 5 „Viel mehr gemeinsames Handeln“ setzt die Integration in allen Bereichen fort. Einher würde eine Stärkung der Machtbefugnisse der Unionsorgane (europäischer Finanzminister, eigene Steuerhoheit) gehen. Neben einer Verteidigungsunion würde eine Wirtschafts-, Finanz-, Fiskal- und Sozialunion Realität werden. Die finanzielle Grundlage müßte eine umfangreiche Vergemeinschaftung von Finanzmitteln (Steuern, EU-Beiträge, Eurobonds) liefern.

Die aus einer Haftungsgemeinschaft entstehenden Gefahren einer unsoliden Haushaltspolitik, nationaler Politikentscheidungen zu Lasten Dritter sowie einer weichen Geldpolitik im Dienste der Finanzminister werden verschwiegen. Indirekt wird das Integrationsszenario jedoch als Voraussetzung einer funktionsfähigen Gemeinschaftswährung gesehen und von der Mehrheit der EU-Kommissare befürwortet. Die Integrations- und Sozialisierungsstrategie ist bereits Kern des Fünf-Präsidenten-Berichtes vom Juni 2015 („Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“). Mitverfasser war Martin Schulz als Präsident des EU-Parlaments. Da auch Macron auf Szenario 5 festgelegt ist, liegt eine entsprechende deutsch-französische Achse ab Herbst 2017 im Bereich des Möglichen – für Deutschland aber folgenschwer.

Der Brexit verändert die Architektur der politischen Entscheidungen. Der Minderheitenschutz in Gestalt der doppelten Mehrheiten wird beschädigt (Art. 16 Abs. 4 EUV). Für eine qualifizierte Mehrheit im EU-Rat sind drei Bedingungen notwendig: Zustimmen müssen 55 Prozent der Länder (mindestens 15), die 65 Prozent der EU-Bevölkerung umfassen. Im Umkehrschluß reicht eine Sperrminorität von vier Ländern mit 35 Prozent Bevölkerungsanteil.

Schaffte es bislang die informelle Koalition für Freihandel und Marktwirtschaft (Deutschland, Großbritannien, die baltischen und Benelux-Staaten, Österreich, Tschechien, Slowakei sowie Finnland), zusammen auf 42 Prozent zu kommen, so reduziert sich ihr Anteil nach dem Brexit auf 33 Prozent.

Eine Dominanz durch die eher staatswirtschaftlich und regulierungsintensiv ausgerichteten mediterranen Mitglieder Frankreich, Italien, Portugal, Spanien und Griechenland (43 Prozent) wäre nicht mehr zu verhindern. Im Ergebnis entfällt eine wesentliche Geschäftsgrundlage, so daß eine Neuaushandlung des EU-Vertrages hinsichtlich langfristig tragfähiger Entscheidungsstrukturen notwendig wäre. Ob dies für Macron auch kein Tabu ist, läßt sich bezweifeln.

„Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien“:  ec.europa.eu/





Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.