© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/17 / 12. Mai 2017

Pankraz,
Cora Stephan und die Ehre der Normalos

Ein Schimpfwort aus alten 68er-Tagen gegen die sogenannten Spießer macht – nach einer Beobachtung von Cora Stephan – jetzt wieder Karriere: „Normalos“. Wer den damaligen „revolutionären“ Studenten nicht widerspruchslos folgte, der war ein „Normalo“, nämlich einer, der mit seinem Leben im großen und ganzen zufrieden war und vor allem Lebensrhythmus und Sicherheit haben wollte. Heute nun (so Stephan in einem Aufsatz in der Neuen Zürcher Zeitung) erscheine der Normalo, also der „ganz normale Bürger“,  wiederum als Verachtungsobjekt der Medien,  und das sei eine unheildräuende Entwicklung.

Cora Stephan voller Sarkasmus: „Like it or not, die meisten Menschen sind heterosexuell, möchten eine Familie mit Kindern und haben keine Zeit, sich lustig zu machen über das Reihenhaus, das sie teuer genug zu stehen kommt. Die meisten Frauen wollen nach der Entbindung auch nicht gleich wieder an den Arbeitsplatz eilen, egal, ob das jemand von den Sozialdemokraten reaktionär findet (…) So sieht halt die Wirklichkeit aus, egal ob das den kulturellen Eliten paßt oder nicht.“ 

 Und weiter in dem Stephan-Aufsatz: „Der Normalo will seine Ruhe und möchte im übrigen nicht dauernd beleidigt werden. Er macht seine Arbeit, zahlt Steuern, pflegt Hobbys und ein wenig Gemeinschaftssinn. Die tägliche Revolution? Nein danke. Das Private ist politisch? Bitte nicht. ‘Gewohnheit’ ist das Wort. Etwas, das man nicht erklären und begründen muß. Worauf man sich verlassen kann. Das mag eher glanzlos sein, aber es ist: normal. Das hat, zumal in nervösen Zeiten, etwas ungemein Beruhigendes. Er (Anm.: der Normalo) maßt sich nicht an, jeden Tag neu erfunden zu werden, und will sich auch nicht ständig über alles den Kopf zerbrechen.“


Goldene Worte“, war Pankraz versucht, bei der Lektüre auszurufen.  „Gewohnheit“ ist in der Tat ein Schlüsselbegriff für gelingendes, halbwegs unbedrohtes Leben. Er markiert und garantiert einen Raum alltäglicher, gleichsam natürlicher Freiheit, in dem man sich nicht dauernd um pure Selbstverständlichkeiten kümmern muß, in dem man – so kürzlich Thorsten Hinz in der JF – „sich der Familie, dem Beruf, den privaten Vorlieben widmen kann“. Wer die Gewohnheit bewußt und planvoll zerstört, muß allerbeste Gründe dafür vorweisen; die 68er oder heutige „Welt-retter“ hatten respektive haben solche Gründe nicht.

Ist der Normalo deshalb aber schon als Vorbild wahren Menschentums auf den Schild gehoben? Ist die „Normalität“ also der Inbegriff unserer menschlichen Existenz, gegen die aufzubegehren erstens verbrecherisch und zweitens vollkommen vergeblich wäre? Wer das zu behaupten wagte, findet Pankraz, läge mit Sicherheit falsch. Eine wahre „Normalität“ gibt es nämlich gar nicht, wir bilden sie uns nur ein und suchen sie in Normierungsregeln erscheinen zu lassen und für uns nützlich zu machen, zum Beispiel mit den DIN-Normen in der Industrie. 

Der Normalo à la Stephan ist gewiß nicht die DIN-Norm des Menschen. Zu seinen Gewohnheiten gehört unter anderem „der Blick über den Gartenzaun“. Seine Natur ist zum Mäkeln geneigt, zum Herummosern, wie es in Berlin heißt, zum Granteln, wie es die Wiener ausdrücken. Er hält es nicht bei sich aus, er schaut über den Gartenzaun zum Nachbarn hinüber – und seine Laune verbessert sich meistens, wenn es dem  etwas weniger gut geht als ihm selbst. Das Maß des Aushaltbaren, des Ertragbaren bestimmt sich nicht zuletzt im Vergleich mit der Lage des Nachbarn. 

An sich ist daran nichts Verächtliches, es entspricht sogar dem notwendigem Wesen sozialer Ordnung. Leben heißt Differenziertheit. Leben heißt Vielfalt. Es gibt oben und unten, die Wenigen und die Vielen, und: „Die Welt hat Bestand nur wegen der vielen“, notierte Paul Valéry 1910 in seinem Tagebuch, „aber sie lohnt sich nur wegen der einzelnen und ihrer herausragenden Leistungen.“ Ein stolzes Wort, doch Ambroise Paul Toussaint Jules Valéry (1871–1945), der gewaltige Sprachmeister und Barde aus der uralten Hafenstadt Sète am Mittelmeer, konnte es sich leisten.


Herausragende Leistungen“: Damit meinte er wohl nicht nur Literatur und Kunst, sondern auch technische Entdeckungen und Erfindungen, medizinische Heilpraktiken, zivilisatorisch-organisatorische Regelungen, die das Leben gewissermaßen verflüssigten und in Ordnung hielten. All das liegt voll im Sinne der Normalos und wird von ihnen goutiert. Die Erfinder, Heilpraktiker und großen Organisatoren gingen in den Normalo-Tempel der guten Erinnerungen ein, die Unbilden und Anormalitäten, die sie bei ihren Taten auf sich nehmen mußten, wurden extra gefeiert und vermehrten ihren Ruhm.

Valéry indessen, da ist sich Pankraz völlig sicher, hatte bei seiner Tagebucheintragung in erster Linie Künstler und Literaten im Auge, jene also, die das Leben via Wort und Bild verdoppeln und es dabei im selben Takt tief kritisieren, es im Grunde total ablehnen, ihm eigene „absolute“ Lebensentwürfe entgegenstellen, Utopien, Ideologien, die dem lieben Gott und seiner Schöpfung gleichsam Konkurrenz machen. Gerade diese Spezies wollte Valéry wohl mit seiner „peine juste pour la performance des indivudus“ auszeichnen, gerade sie wollte er glorios von den Normalos abheben.

Es war eine Art Berufskrankheit. Valéry wußte nur zu genau um die Kraft des poetischen Wortes, wußte, daß es potentiell in der Lage ist, die Wirklichkeit regelrecht zu übersteigen und an Dimensionen heranzureichen, die dem menschlichen Handeln und Sprechen in der Normalität nicht zugänglich sind. Mit dem absoluten Wort absolute Politik machen zu wollen, hat er sein Leben lang sorgsam vermieden.

Er wußte: Bestand hat unsere Welt nur durch die Vielen, und der Bestand ist schließlich auch für die Existenz der Wenigen nötig, ob diese nun echte Schöpfer oder bloße Zerstörer sind. Darin liegt ja nicht zuletzt die Ehre der Normalos: Sie sorgen für den Bestand, sie sind nötig und wollen sich deshalb nicht von den Wenigen beleidigen lassen.