© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/17 / 12. Mai 2017

Das einträgliche Geschäft des Terrors
Nigeria: Die geglückte Freilassung der 82 Mädchen von Chibok nährt Spekulationen über die Schwäche der Terrorsekte Boko Haram, doch der Schein trügt
Marc Zoellner

Mehr als drei Jahre dauerte ihr Martyrium, doch nun sind sie endlich wieder zu Hause: Für 82 nigerianische Mädchen und Frauen hat der Schrecken ihrer Gefangenschaft ein Ende gefunden. Was hinter ihnen liegt, läßt sich im Ansatz kaum erahnen, ihre Erlebnisse schwer skizzieren. Zusammen mit beinahe 200 ihrer Mitschülerinnen waren die Mädchen Mitte April 2014 von Kämpfern der radikalislamischen Terrorsekte Boko Haram nachts aus ihren Schlafsälen der Government Secondary School in der kleinen Stadt Chibok in Nigerias nordöstlichem Bundesstaat Borno entführt und in die unwegsamen Wälder an der Grenze zu Kamerun verschleppt worden. 

Der Grund für die Entführung: ihr christlicher Glaube. Denn Borno ist großteils muslimisch geprägt. Doch lebt hier auch eine signifikante, von den Anhängern Boko Harams terrorisierte christliche Minderheit – welche in Chibok wiederum die Mehrheit der Bevölkerung bildet.

Mit Chibok erlebte der nigerianische Staat, der seit 2010 einen blutigen Antiterrorkrieg gegen Boko Haram führt, die umfangreichste und wohl auch tragischste Massenentführung seiner jüngeren Geschichte. Gleichwohl kam es auch immer wieder zu schweren Massakern und Verschleppungen in anderen Schulen und Kirchen im Norden Nigerias. Durch Überfälle und Selbstmordanschläge von Anhängern Boko Harams fanden bislang über 20.000 Menschen den Tod; beinahe zweieinhalb Millionen wurden aus ihren Dörfern vertrieben. Bewaffnete Einheiten der Sekte brannten in den vergangenen Jahren ganze Dörfer nieder und richteten unzählige entführte Kinder dazu ab, sich auf belebten Märkten in die Luft zu sprengen.

Um so erfreuter zeigt sich Nigerias Präsident Muhammadu Buhari über die geglückte Freilassung der 82 Mädchen von Chibok: Denn lange Zeit fürchteten Regierungsvertreter und Verwandte der Entführten, diese könnten auf Sklavenmärkten an Menschenhändler verkauft oder mit den Anführern Boko Harams zwangsverheiratet werden. 

Auch Kamerun leidet unter Angriffen der Dschihadisten

Die wenigen Mädchen, denen in der Vergangenheit die Flucht gelang, berichteten von Zwangsislamisierung, von Hunger und Folter. Ebenso vom Versuch der Indoktrination der Mädchen für künftige Selbstmordattentate. „Der Präsident war erleichtert, sie wiederzusehen“, erklärte Femi Adesina, Medienberater Muhammadu Buharis, vergangenes Wochenende auf einer Pressekonferenz. „Er versprach zudem, daß alles Nötige veranlaßt wird, um sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren, und daß er höchstpersönlich ihre Wiedereingliederung betreuen wird.“

Für die Entführer der Mädchen war die Geiselnahme von Chibok hingegen ein mehrfach höchst einträgliches Geschäft: Bereits im Oktober vergangenen Jahres lösten sie nach langen Verhandlungen mit der Regierung Nigerias sowie Unterhändlern aus der Schweiz 21 Mädchen aus und erhielten dafür der Nachrichtenagentur Associated Press zufolge mehrere Millionen US-Dollar aus Bern. Auch diesen Mai soll wieder Lösegeld geflossen sein – zuzüglich zur Freilassung von fünf hochrangigen Kommandeuren der Boko Haram aus nigerianischen Haftanstalten, wie die nigerianische Regierung am Montag bestätigte.

Die von vielen Nigerianern gehegte Hoffnung, die Schlagkraft der Terrorsekte wäre gebrochen und die Moral ihrer Kämpfer am Boden, dürfte sich damit endgültig zerstreut haben. Im Gegenteil bewiesen die Radikalislamisten in den vergangenen zwei Wochen parallel zu den laufenden Verhandlungen um die Mädchen von Chibok, daß sie noch immer über Tausende schwer bewaffnete Anhänger befehligen. 

Erst Ende April starben über einhundert der Dschihadisten bei ihrer versuchten Erstürmung einer Kaserne in Mongunu, einer gut 200 Kilometer von Chibok entfernten Grenzsiedlung unweit des Tschadsees. Nur eine Woche später töteten islamistische Milizionäre neun Soldaten im Tschad, und auch das benachbarte Kamerun erlebt seit 2014 eine ungebrochene Welle des Terrors durch infiltrierende Dschihadisten: Über 2.000 Kameruner, listet die lokale Tageszeitung Cameroon Concord auf, seien seitdem bei gut 500 Angriffen – ganze fünfzig davon Selbstmordanschläge – getötet worden.