© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Nur eine inszenierte Sterbeszene
Yvonne Schymura und ihre Deutung des Lebens der Ausnahmekünstlerin Käthe Kollwitz
Paul Leonhard

Die Liebe, der Krieg und die Kunst“ heißt eine rechtzeitig zum 150. Geburtstag der Grafikerin, Malerin und Bildhauerin erschienene Biographie über Käthe Kollwitz. In ihr zeichnet die Historikerin Yvonne Schymura das Bild einer „selbstbewußten, leidenschaftlichen und unerschrockenen“ Ausnahmekünstlerin und politischen Kämpferin, wie es im Klappentext des Verlages heißt. Die Autorin, so wird dem Leser versprochen, räume mit „gängigen Mythen auf und thematisiert auch die rätselhaften Umstände von Kollwitz’ Tod“.

Mythen und Rätsel? Kollwitz, geboren am 8. Juli 1867 in Königsberg, gestorben am 22. April in Moritzburg bei Dresden, zählt zu den bekanntesten deutschen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Lebensgeschichte und ihre Karriere als weibliche Künstlerin in einer Ende des 19. Jahrhundert von Männern beherrschten Domäne ist unzählige Male erzählt worden. Sie selbst hat umfangreiche Tagebücher hinterlassen und Episoden aus ihrem Leben für die Nachwelt aufgeschrieben. Aus diesem Konvulut habe sich jeder nach Belieben bedient und gegensätzliche Geschichten erzählt, so Schymura: „Was lange fehlte, war eine quellenkritische biographische Erzählung, die nicht ein bestimmtes, politisch gewolltes Kollwitz-Bild zu bestätigen suchte und sich auch nicht von der Künstlerin selbst auf eine falsche Fährte führen ließ.“

Wenn es Schymuras Absicht war, diese Lücke zu füllen, dann ist ihr das nicht gelungen. Sie bleibt sogar hinter dem zurück, was Jutta Bohnke-Kollwitz, die Enkelin der Künstlerin, in ihrer Einführung zu der 1988 in der Bundesrepublik und der DDR gleichzeitig erschienenen vollständigen Publikation der Tagebücher von Käthe Kollwitz über das Leben und Wirken ihrer Großmutter schreibt.

Aber wie ist das mit den angeblich rätselhaften Umständen ihres Todes? Kollwitz zieht im Sommer 1944 nach Moritzburg, wo sie am 22. April 1945 stirbt. Allerdings nicht mit den Worten an ihre Enkelin Jutta „Grüßt alle“, wie es Sohn Hans Kollwitz beschreibt, sondern allein. „Mit letzten Worten ist es so eine Sache und mit idyllischen Sterbeszenen auch, denn seit gut zwei Jahren ist bekannt: Käthe Kollwitz starb nicht im Kreis ihrer Liebsten“, schreibt Schymura im Vorwort ihrer Biographie. 

Hans Kollwitz habe, als er die kleine Sterbeszene inszenierte, gewußt, daß die Zwillingsschwestern Jutta und Jördis Moritzburg am 22. April bereits verlassen hatten, empört sich die Autorin: „Seine Entscheidung, die Ereignisse zu verschleiern, mag auf menschlicher Ebene verständlich sein, für die historische Betrachtung ist sie wenig förderlich gewesen. Wo gesicherte Überlieferungen fehlen, ist der Weg frei für Legenden und Verklärungen.“

Gleichzeitig erinnert Schymura daran, in ihrer Dissertation diese Unstimmigkeit in einem einzelnen Absatz eines Briefes einer Freundin von Käthe Kollwitz zum ersten Mal aufgedeckt zu haben. Daß Schymura mit ihrer Entdeckung recht hatte, bestätigte Bohnke-Kollwitz in der 2015 erschienenen Kollwitz-Biographie von Yury und Sonya Winterberg. Das war es dann aber auch schon an biographischen Mythen, mit denen die jüngste Biographie aufzuräumen versprach.

Ein zu einseitiges Bild als politische Künstlerin

Merkt man Schymuras Biographie überdies in nahezu jedem Satz an, daß sie auf einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit basiert. Zwar bemüht sich die Autorin, die Ergebnisse ihrer 2014 veröffentlichten Dissertation „Käthe Kollwitz. Biographie und Rezeptionsgeschichte einer deutschen Künstlerin“ neu zu formulieren, allein es gelingt ihr nicht. Dazu kommt ein schlechtes Lektorat, das nicht einmal offensichtliche Wiederholungen bemerkt und allzu plumpe persönliche Meinungen der Autorin redigiert hat.

Dazu kommen noch seltsame Spekulationen. Etwa ob Kollwitz, wenn sie nicht zum Austritt gezwungen worden wäre, dann auf eigene Initiative noch 1933 die Preußische Akademie der Künste verlassen hätte, weil sie sich außerstande sah, sich „zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten politischen Lage“ zu verpflichten, wie es im März 1933 gefordert wurde. Bohnke-Kollwitz schreibt dagegen über Käthe und Karl Kollwitz, daß diese anfangs zu erkennen versuchten, was sich den neuen Zuständen und Positionen abgewinnen läßt, „und das war nicht wenig“, wie Kollwitz notierte: „Im Ganzen aber konnten wir nicht mitgehen, mußten im Gegenteil durchaus ablehnen.“

Deutlicher als andere arbeitet Schymura heraus, daß es Käthe Kollwitz war, die bei ihrem Mann gegen dessen Widerstand durchsetzt, daß ihr noch unmündiger Lieblingssohn Peter 1914 als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg ziehen darf. Als dieser kurz darauf in der ersten Flandernschlacht fällt, wird dessen Tod, für den sie sich schuldig fühlt, zu dem ihr künstlerisches Schaffen fortan beherrschenden Thema.

Wirklich interessant wird das Buch ab dem Kapitel „Nachleben“. In diesem beschäftigt sich die Autorin faktenreich mit der Kollwitz-Wahrnehmung in der Nachkriegszeit. Als erklärte Sozialistin und Pazifistin waren Künstlerin und Werk für beide deutschen Staaten interessant, schreibt Bohnke-Kollwitz 1988: Dies habe zu einem bisweilen einseitigen Bild der politischen Künstlerin, der Kämpferin für Frieden und Gerechtigkeit, der Fürsprecherin des Proletatiats geführt.

Was dem eigenen Kollwitz-Bild widersprach, hätten beide Seiten marginalisiert oder kurzerhand weggelassen, konstatiert auch Schymura. Nach der Wiedervereinigung lösten sich manche Gegensätze auf und „machten Platz für eine wissenschaftliche Betrachtung“. Doch erst heute sei der Blick frei „auf das facettenreiche Werk einer einzigartigen Künstlerin, das die Zeit überdauern wird“.

Yvonne Schymura: Käthe Kollwitz. Die Liebe, der Krieg und die Kunst. Verlag C. H. Beck, München 2016, gebunden, 315 Seiten, Abbildungen, 19,99 Euro