© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Das große Gemetzel auf dem Subkontinent
Der Sepoy-Aufstand von 1857 veränderte Großbritanniens Rolle in Indien maßgeblich / Grausamer Kolonialkrieg
Karl-Heinz Schuck

Im Mai 1857 brach in Indien ein Aufstand aus, der in seinen Nachwirkungen die Existenz der mehr als 250 Jahre alten Handelsorganisation British East India Company (BEIC) beendete und die Verhältnisse auf dem Subkontinent grundlegend änderte. Die BEIC war für die britische Krone seit 1784 Regierungsdienstleister in Indien und stellte die Verwaltung und Truppen. 

Der Sepoy-Aufstand, benannt nach meuternden indischen Soldaten, den Sepoys, traf die Briten vor Ort vollkommen unerwartet. Viele Offiziere der privaten Armee der BEIC hatten nur wenig direkten Kontakt zu ihren Einheiten und waren oft kaum an der indischen Kultur, den Strukturen der Gesellschaft und den Landessprachen interessiert. Kommunikation mit den Soldaten fand nur noch über Übersetzer statt. Die Wahrnehmung zunehmender Unzufriedenheit in der Truppe war somit unterbunden. 

Was führte nun zur Meuterei der Inder? Viele der Soldaten stammten aus der Provinz Oudh, die erst 1856 annektiert worden war und waren dadurch in ihrem Stolz getroffen. Soldaten höherer gesellschaftlicher Klassen verloren in der Folge ihre dort geltenden zivilen Sonderrechte. Probleme bereitete auch die zunehmende Rekrutierung von Sikhs und Moslems, mit denen zusammen Dienst geleistet werden mußte. Diese galten für die gläubigen Hindus als „Unberührbare“. Des weiteren wurde von den Angehörigen hoher Kasten gefordert, zukünftig außerhalb Indiens Dienst zu tun. Nicht beachtet wurde, daß dies den Verlust der Kastenzugehörigkeit mit sich brachte und daher als massive religiöse Bedrohung angesehen wurde. Schließlich wurde ein neues Gewehr eingeführt, von dem es hieß, daß die zu verwendenden Pulverkartuschen außen mit einer Mischung aus Rindertalg und Schweinefett beschichtet wären. 

Obwohl nur ein Gerücht, wurde dies von den Soldaten als wahr angesehen. Die Nutzung dieser Kartuschen verbot sich für Hindus und Moslems aufgrund des jeweiligen Glaubens gleichermaßen, so daß ein Regiment bei der Umrüstung am 7. Mai die Nutzung verweigerte. Die nun folgende Entwaffnung der Soldaten und öffentliche Aburteilung und Degradierung zwei Tage später wurde als tiefe Demütigung angesehen. Am 10. Mai stand die Kaserne in Flammen und ein offener Aufstand brach aus, an dem sich 45 von 74 Sepoy-Regimentern beteiligten. Unterstützung fand er in Provinzen, deren Gebiete annektiert worden waren, so besonders in Oudh. 

Der Verlust der Privilegien vieler Würdenträger, eine geänderte Steuerveranlagung, ein neues Landrechtsystem, Einmischung in religiöse Praktiken und in Erbfolgen hatten eine allgemeine Unzufriedenheit geschaffen. Es wird davon ausgegangen, daß die Erhebung lange und breit vorbereitet wurde – schlossen sich ihr doch in kürzester Zeit mit Kaufleuten, Handwerkern, Tagelöhnern und hohen Würdenträgern die Vertreter unterschiedlichster Schichten an.

Die militärische Führung der BEIC reagierte zunächst wie gelähmt; nur schwerfällig wurden Beschlüsse gefaßt und Truppen bewegt. Die vorsorgliche Entwaffnung indischer Soldaten wurde von diesen als Affront betrachtet und trieb sie in großer Zahl erst recht zu den Meuterern. Ausgehend von Delhi dehnte sich der Aufstand im Juni 1857 in große Teile Nord- und einige Teile Zentralindiens aus. Britische Offiziere wurden dabei von ihren Untergebenen ermordet, aber auch europäische Zivilisten fielen Massakern zum Opfer. 

Auch die Briten begingen regelrechte Exzesse

Für die Briten besonders abscheulich waren die Vorgänge um Kanpur: Britische Truppen mußten kapitulieren, als ihnen Munition, Wasser und Nahrung ausgingen. Der Anführer der Inder sicherte freien Abzug zu, ließ dann aber die Briten am Gangeshafen erschießen. Die gefangenen Zivilisten wurden eingesperrt und beim Herannahen weiterer britischer Truppen auf grausame Weise hingerichtet – jedoch nicht von indischen Soldaten, die sich diesem Vorgehen verweigerten, sondern von dazu verpflichteten Metzgern. 

Die Truppen, von weiteren Einheiten aus Europa verstärkt, gingen mit größter Härte und beseelt von Rache-gedanken gegen die Aufständischen vor. Sie folgten der Strategie, die unterschiedlichen Gruppen der Meuterer einzeln zu zerschlagen. Hierbei kam es von britischer Seite ebenfalls zu Exzessen: In manchen Dörfern wurden alle männlichen Einwohner exekutiert, verschiedentlich ganze Stadtviertel zerstört und die Einwohner getötet. Einen entscheidenden Beitrag, um in die Offensive gehen zu können, leisteten neu aufgestellte Verbände der loyalen Sikhs, in deren Territorium die britische Herrschaft sich als gerecht gezeigt hatte. Den Sikhs bot sich nun ebenfalls Gelegenheit zur Rache für erlittene Zurücksetzungen durch Sepoys hoher Kasten. Die Niederschlagung des Aufstandes wurde so zu einem allgemeinen Rachefeldzug.

Obwohl die Kämpfe noch bis ins Jahr 1859 andauerten, sahen sich die Briten Mitte 1858 als Sieger und gingen mit dem Government of India Act an die Planung für die Zeit nach dem Aufstand. Die BEIC, die die Stimmung in Indien falsch eingeschätzt hatte, verlor das Vertrauen Königin Victorias. Die Verwaltung Indiens ging nun an die britische Regierung, die aus dem Land eine Kronkolonie machte. Die Truppen der BEIC wurden nach religiösen Zugehörigkeiten umstrukturiert, reformiert und in die britische Armee übernommen; ebenso die bestehenden Verwaltungsstrukturen. Königin Victoria wurde zur Kaiserin von Indien gekrönt und die Gouverneure zu Vizekönigen ernannt. Die einst mächtige British East India Company war ohnehin durch den Aufstand wirtschaftlich nachhaltig angeschlagen, am 1. Januar 1874 wurde sie schließlich aufgelöst.