© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Lügen, Wahrhaftigkeit und die Gabe der Unterscheidung
Die Wahrheit als Waffe
Konrad Adam

Kaum etwas kann auf so instinktiven Widerwillen rechnen wie die Lüge. Der Abscheu vor der Lüge und die Verachtung des Lügners sind so allgemein verbreitet, daß man nur selten nach den Gründen fragt. Aber die Frage lohnt, weil die Lüge ja nicht nur im Altertum hingenommen oder verteidigt, gelegentlich sogar glorifiziert worden ist. Auch in christlichen Zeiten ist die Lüge zwar immer wieder verpönt und verurteilt, aber nie verboten worden. Die moderne Naturwissenschaft hat zu ihrer Renaissance beigetragen, indem sie die Lüge als Waffe im Kampf ums Dasein entdeckt und regelrecht empfohlen hat.

Richard Dawkins, der englische Evolutionsguru, rät seinen Adepten ausdrücklich, sich keine Gelegenheit zur Lüge entgehen zu lassen. Die Lüge sei ein Beweis für biologische Fitneß, die zu belohnen, nicht zu bestrafen sei. Selbst die Bibel, die der Wahrhaftigkeit doch nun wirklich einen hohen Wert beimißt, verbietet nicht etwa die Lüge, sondern bloß die Verleumdung: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten, heißt das entsprechende Gebot. Die Wahrheit wird verlangt, die Lüge aber keineswegs verboten.

Woher dann unser Widerwille? Hannah Arendt findet den Grund dafür in einer verborgenen Absicht. Wer lügt, sagt sie, verfolge einen versteckten Zweck. Während die Wahrheit interesselos gesucht und offen vorgetragen werde, handle der Lügner verdeckt und absichtsvoll. Was unsere Empörung hervorrufe, sei diese Absicht, nicht eigentlich die Lüge selbst.

Das klingt plausibel. Wer dort, wo es um wahr oder falsch geht, Absichten verfolgt, kann als Person für das, was er sagt, nicht mehr einstehen. Er verspielt sein wichtigstes Kapital, seine Glaubwürdigkeit, die ohne Unabhängigkeit und Freiheit nicht zu haben ist. Wer lügt, so könnte man sagen, ist Partei – ein Satz, der sich auch umkehren läßt und der dann lautet: Wer Partei ist, der lügt. Womit wir mitten in der Wirklichkeit, der politischen Wirklichkeit von heute sind.

In dieser Wirklichkeit muß die Lüge schon deshalb anders bewertet werden als im gewöhnlichen Leben, weil das Erkennen, das Wahrnehmen, das Durchsetzen von Interessen nun einmal Aufgabe der Politik ist, modern gesagt: zu ihrem Kerngeschäft gehört. Deshalb ist Wahrheit keine politische Kategorie, Lüge auch nicht. In der Politik geht es um Macht – zu deren Eroberung Betrug und Täuschung, Lüge und Verrat schon immer als probate Mittel galten. Ihr Gebrauch wurde geduldet, gerechtfertigt oder gar bewundert, wenn er erfolgreich war – und angeprangert, wenn er sein Ziel verfehlte.

Es ist deshalb nicht eigentlich die Lüge, viel eher ihr erfolgloser Gebrauch, den wir dem lügnerischen Politiker zum Vorwurf machen. Wir verurteilen ihn nicht, weil er gelogen hat, sondern weil er mit seinen Lügen nicht durchgekommen ist: ein Unterschied, der den Abstand zwischen dem Führer, der seinem geschundenen Volk den Endsieg im längst verlorenen Weltkrieg verspricht, und der Kanzlerin, die ihren verängstigten Landsleuten die Masseneinwanderung von allerlei zwielichtigen Gestalten als kulturelle Bereicherung verkauft, erheblich schrumpfen läßt. Beide lügen. Und beide, weil sie mit ihrer Politik gescheitert sind.

Wo die Lüge alltäglich geworden ist, gewinnt ihr Gegenteil, die Wahrheit, ein spezifisches Gewicht. Dann wird sie zu einem politischen Faktor ersten Ranges. Wenn prinzipiell und systematisch gelogen wird, macht jeder, der ganz einfach sagt, was los ist, Politik.

Um weiterzumachen, muß der erfolglose Politiker die Lüge auf Dauer stellen, ihr ein Gewohnheitsrecht verschaffen. Dazu gab es bisher nur ein Mittel, die Zensur. Neuerdings gibt es ein zweites, die Sprachpolitik: Politik mit dem Ziel, den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge systematisch zu verwischen. Wie man das macht, weiß die moderne Sprachpolizei, die aus dem Rowdy einen Aktivisten, aus dem Illegalen einen Schutzbefohlenen, aus dem Krieg eine humanitäre Intervention und aus dem Ladendieb einen „unconventional shopper“ macht. Indem sie nicht mehr von falscher oder verlogener, sondern von politisch korrekter Sprache spricht, hat sie die Wahrheit selbst zum Gegenstand der Lüge gemacht.

Wo es so weit gekommen ist, wird der Zensor überflüssig. Man braucht ihn nicht, weil die verhunzte Sprache garantiert, daß wir vieles von dem, was wir sagen wollen, gar nicht mehr sagen können. Einer Zensur bedarf es dann nicht mehr; der Eingriff, das Verbot, die Strafe werden überflüssig, weil die Zuwiderhandlung nicht mehr möglich ist. Man nimmt die Wirklichkeit nicht mehr mit seinen, sondern mit fremden Augen wahr und betet nach, was andere vorgebetet haben. „Sie bilden sich ein, das Wesen der Wirklichkeit sei an sich klar“, belehrt der Große Bruder sein Opfer Winston Smith in Orwells düsterem Zukunftsroman. „Aber ich sage Ihnen, die Wirklichkeit ist nicht etwas an sich Vorhandenes. Die Wirklichkeit existiert im menschlichen Denken und nirgends sonst – nicht im Denken des einzelnen natürlich, der irren kann und bald zugrunde geht, sondern im Denken der Partei, die kollektiv und unsterblich ist. Was immer die Partei für Wahrheit hält oder so ausgibt, ist Wahrheit. Es ist unmöglich, die Wirklichkeit anders als durch die Augen der Partei zu sehen.“

Man muß das multiplizieren, statt im Singular von Parteien im Plural reden, um die Romanwelt hinter sich zu lassen und im deutschen Parteienstaat anzukommen. In Deutschland haben die Parteien insgesamt die Rolle übernommen, die in Orwells Roman einer einzigen Partei zugewiesen wird. Sie bilden ein Kartell, das seine Vorherrschaft mit allen Mitteln verteidigt und jede Opposition ausschließt. „Jetzt lernen wir die pluralistische Variante des Einparteiensystems kennen“ soll ein gelernter Ossi gesagt haben, als der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik unmittelbar bevorstand.

Der Mann hatte recht. Blockparteien gab es ja nicht nur in der DDR, die gibt es auch bei uns, sie heißen nur nicht so. Wie dort haben sie sich mit einem Kreis von willigen Helfern aus Medien, Kirchen und Verbänden umgeben und zum gemeinsamen Vorgehen verabredet. Die Lüge wird nicht mehr vereinzelt und verschämt, sondern geballt und mit dem besten Gewissen der Welt vorgetragen. Das lange Schweigen über das, was in der Kölner Silvesternacht geschehen war, und die lächerliche Selbstverpflichtung, Hinweise auf Alter, Herkunft und Religion ausländischer Straftäter bewußt zu verschweigen, sind dafür nur die bekanntesten Beispiele.

Über die Folgen der Verabredung findet sich Einschlägiges bei Hannah Arendt. Wo die Lüge, schreibt sie, alltäglich geworden ist, gewinnt ihr Gegenteil, die Wahrheit, ein spezifisches Gewicht. Dann wird die Wahrheit zur Waffe, zu einem politischen Faktor ersten Ranges. Wenn nicht mehr nur gelegentlich, sondern prinzipiell und systematisch gelogen wird, macht jeder, der ganz einfach sagt, was los ist, Politik. Indem er den Mund auftut, hat er zu handeln angefangen, auch wenn er das nicht weiß und gar nicht wollte. Er leistet Widerstand.

Der ist inzwischen schwieriger geworden als früher, weil wir uns nach der Lüge im Wort ja nun auch gegen die Lüge im Bild zur Wehr setzen müssen. Das Pressefoto des Jahres 2015, von allen Zeitungen in großer Aufmachung verbreitet und ausführlich kommentiert, ist eine solche Lüge. Es zeigt ein morsches, offenbar seeuntaugliches Boot, besetzt mit einem alten Mann, einer jungen Frau und ein paar Kindern, die ihre Hände sehnsuchtsvoll nach irgendeinem fremden Ufer ausstrecken.

Wer schützt uns vor dem Chaos? Am Ende sehen wir uns auf uns selbst zurückgeworfen, auf unsere Fähigkeit, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Der Wille, sich selbst ein Bild zu machen und selbst zu urteilen, ist der harte Kern der Freiheit.

Das Bild ist wahr – und trotzdem eine dicke Lüge, weil offenbar gestellt. Die anspruchsvolle Propaganda ist mit der Zeit gegangen und arrangiert die Wirklichkeit, bevor sie sie ins Bild setzt. Stalin genügte es, seinen Erzfeind Trotzki nachträglich aus dem berühmten Foto zu entfernen, das ihn am Fuß der Rednerbühne zeigt, von der herab Lenin zu den Massen spricht. Das war ein relativ harmloser Eingriff, eine Retusche, die rückgängig gemacht worden ist, nachdem Stalin die Bühne der Weltgeschichte verlassen hatte.

Heute bieten sich jedem technisch versierten Internetbenutzer aber ganz andere Möglichkeiten als damals Stalins Fälschern. Mit Hilfe von Bildbearbeitungsprogrammen kann er zweite, dritte oder vierte Wirklichkeiten produzieren, die sich von der ersten, der „wahren Wirklichkeit“, nur unter Einsatz desselben Aufwands unterscheiden lassen, der nötig war, sie zu erschaffen. Aber selbst wenn der Nachweis gelingt und der Schwindel auffliegt, ist der Schaden groß; das falsche Bild ist dann schon um die halbe Welt gelaufen, hat die Köpfe vernebelt und sich in manchen festgesetzt.

Was tun gegen ein Kartell, das uns, den Bürgern dieses Landes, Nafris als Flüchtlinge, Gauner als Schutzbefohlene, Drückeberger als in Not geratene Menschen unterjubeln will? Wir kennen die Antwort: Statt auf die alten sollen wir auf die neuen Medien setzen, die alternativen, sozial genannten Netzwerke wie Facebook, Twitter und dergleichen. Dort, heißt es, würden wir die Wahrheit über das erfahren, was anderswo entstellt, erlogen oder unterdrückt wird.

Ich bin mir da nicht ganz so sicher. Denn abgesehen davon, daß es die Wahrheit auf diesen ziemlich a-sozialen Rummelplätzen auch nicht viel leichter hat als in den etablierten Medien, steht schon die Masse des Angebotenen dem vorgeblichen Zweck, der Aufklärung, im Wege. Der Meinungs- oder Werbeschrott verwirrt das Orientierungsvermögen und macht die Unterscheidung von wahr und falsch, auf die doch alles ankommt, nahezu unmöglich.

Wer schützt uns vor dem Chaos und denen, die vom Chaos profitieren? Vor den Parteipolitikern, die sich im Namen der Humanität über Recht und Gesetz hinwegsetzen? Vor den Kirchenmännern, die sich auf die Bibel berufen, um besser ins Geschäft zu kommen? Vor den Kulturschaffenden, den Literaten und Literatrinen, die genau wissen, daß sie nur dann mit öffentlichen Mitteln rechnen können, wenn sie sich nach der Decke strecken und den Unsinn, den wir schon lange nicht mehr hören können, noch einmal wiederholen?

Nur wir selbst. Am Ende sehen wir uns auf uns selbst zurückgeworfen, auf unsere Fähigkeit, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Der Wille, sich selbst ein Bild zu machen und selbst zu urteilen, ist der harte Kern der Freiheit. „Erinnern Sie sich“, fragt der Große Bruder den armen Winston Smith, „erinnern Sie sich, in Ihr Tagebuch geschrieben zu haben: Freiheit ist die Freiheit, zu sagen, daß zweimal zwei vier ist?“ Als Winston das bejaht, wird er so lange gequält, bis er erklärt, daß zweimal zwei fünf ist – nicht fünf sein könnte, sondern fünf ist. In diesem Augenblick hat er mit der Wahrheit auch seine Freiheit verloren.

Leicht hat es die Wahrheit nie gehabt, so schwer wie heute wahrscheinlich aber auch noch nie. Kaum jemals habe es eine Zeit gegeben, in der Tatsachenwahrheiten, die den Vorteilen und Ambitionen einer der zahllosen Interessengruppen entgegenstehen, mit so viel Eifer und so großer Wirksamkeit bekämpft worden wären wie heute, schrieb Hannah Arendt vor fünfzig Jahren – was würde sie heute sagen? Wahrscheinlich würde sie uns daran erinnern, daß die Wahrheit eine Macht ist. Und daß es bei uns liegt, diese Macht einzusetzen, indem wir darauf bestehen, daß wir es sind, die zwischen wahr und falsch unterscheiden.






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der FAZ und Chefkorrespondent der Welt. Adam gründete die Alternative für Deutschland mit und war bis Juli 2015 einer von drei Bundessprechern. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Bekenntnisfreiheit, säkularen Staat und die Misere der Kirchen („Das Kreuz mit der Religion“, JF 50/16).

Foto: Lügen oder bei der Wahrheit bleiben – für manche Medien­schaffende ein täglicher Balanceakt: Leicht hat es die Wahrheit nie gehabt, so schwer wie heute wohl aber noch nie