© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Wenn das Dasein zur Wirklichkeit erwacht
Liebe zum Lebendigen: Der bedeutende katholische Philosoph und ehemalige Papstberater Robert Spaemann wird neunzig
Dieter Freihoffer

Fragt man, was den Philosophen Robert Spaemann – er wird am 5. Mai 90 Jahre alt – auszeichnet, so könnte man zunächst auf seine Fähigkeit zu staunen verweisen, die ja nach Platon Voraussetzung und Anlaß alles wahren Philosophierens ist, man könnte ebensogut aristotelische Tugenden wie Besonnenheit, Großmut, Hochherzigkeit anführen: all dies wäre wahr und doch bliebe eine wesentliche Eigenschaft unerwähnt, nämlich seine Liebe zu allem Lebendigen.

Dieses Phänomen des Lebendigen ist es auch, das Spaemann wie kein anderer Philosoph seiner Epoche zum Ausgangspunkt seines Nachdenkens über die grundlegenden Fragen der Metaphysik und Ethik gemacht hat. Dieses Denken steht damit in einem diametralen Gegensatz zu dem  vorherrschenden naturalistischen Paradigma, dem zufolge jede Naturerklärung, sofern sie Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, auf die mathematische Physik zurückgeführt werden muß. Im Rahmen dieser reduktionistischen Position kann das Lebendige aber gar nicht als eigenes Phänomen wahrgenommen werden, vielmehr erscheint es nun als Epiphänomen komplexer biochemischer, als letztlich physikalischer Vorgänge.

Kritik am neuzeitlichen Reduktionismus

Dieses Weltbild hat nicht nur einschneidende Folgen für unser Verhältnis zur Natur – der berühmte, ganz dem Reduktionismus verpflichtete Kosmologe Steven Weinberg schrieb: „Je verständlicher die Welt wird, um so absurder erscheint sie auch“ –, sondern auch für unser Selbstverständnis: Im Rahmen dieses Paradigmas, schreibt Spaemann, muß der Mensch sich selbst als ein für das Überleben programmiertes Naturgebilde verstehen; seinen Glauben, er könnte  spontane Ursache seines Wollens und Handelns sein, muß er ebenso für eine überlebensdienliche Illusion halten wie seine moralischen, ästhetischen und  religiösen Überzeugungen.  

Was stellt Spaemann diesem reduktionistischen Weltbild entgegen? Nun, zunächst erinnert er immer wieder daran, daß der neuzeitliche Naturbegriff um ein entscheidendes Moment verkürzt ist. Dies wird zum Beispiel deutlich an der Aussage, daß – obwohl der Mensch nicht von Natur aus spricht – es dennoch zur Natur des Menschen gehört, daß er in einer sprechenden Umgebung aufwächst und sprechen lernt. Im Rahmen des neuzeitlichen Naturbegriffs ist diese Aussage deshalb unsinnig, weil sie ein teleologisches Moment beinhaltet: sie besagt ja, daß der Mensch von Natur aus darauf angelegt ist, sprechen zu lernen.

Raum der Freiheit und des ethischen Handelns

Der Grund, warum die moderne Naturwissenschaft Lebendiges nicht als Lebendiges in den Blick nehmen kann, hat also vor allem damit zu tun, daß sie teleologisches Denken prinzipiell für unwissenschaftlich hält; da der Naturalismus andererseits beansprucht, umfassende Erkenntnis zu sein, führt dies notwendig  zur Auffassung, daß Lebewesen biochemisch gesteuerte Automaten sind.  Da dies nun ebenso für den Menschen gelten müßte, ergibt sich ein prinzipieller Einwand gegen den Naturalismus: Der Erkenntnisanspruch dieser Theorie verfällt selbst dem Reduktionismus und ist daher ohne Bedeutung. 

Spaemanns Kritik am neuzeitlichen Reduktionismus zielt aber noch auf ein weitaus grundlegenderes metaphysisches Problem. Denn mit der Reduktion des Lebendigen auf bloße Biochemie wird unserem Verständnis dessen, was der Begriff „Wirklichkeit“ überhaupt besagen soll, der Boden entzogen. Die Überlegungen Spaemanns hierzu gehören zum Besten, was über dieses alte Problem gedacht worden ist; sie können hier freilich nur skizziert werden.

Worum es geht, wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, daß auf die fundamentale Frage nach der Bedeutung von Wirklichkeit – traditionell ist dies die Frage nach der Substanz, nach dem, was an-und-für-sich ist –  von seiten der Physik keine Antwort erwartet werden kann, und zwar deshalb, weil sie ihrerseits einen wie auch immer verschwommenen Wirklichkeitsbegriff voraussetzt, andererseits aber über keine Kandidaten verfügt, ihn zu exemplifizieren. Newton nahm allerdings an, daß die als unveränderlich gedachten Atome selbst-seiende Wirklichkeiten, also Substanzen sind; die Atome erwiesen sich jedoch als komplexe Gebilde sogenannter Elementarteilchen. Diese nun wiederum als eigenständige Objekte aufzufassen scheitert nicht nur daran, daß sie durch Relationen, nämlich Wechselwirkungen mit anderen Teilchen definiert sind, sondern daß sie als Eigenschaften („Anregungszustände“) von Feldern aufgefaßt werden müssen, deren ontologischer Status ebenso unklar ist. 

Tatsächlich ist Selbst-Sein gar nicht denkbar ohne Innerlichkeit – Innerlichkeit ist aber gerade konstitutiv für Lebewesen. Das einzige Lebewesen jedoch, das aus sich heraustreten und sein Selbstsein quasi von außen in den Blick nehmen kann, ist der Mensch: So gelangt Spaemann schließlich zu der Auffassung, daß bewußtes Leben das fundamentale Paradigma des Seienden ist. Der Begriff des Wirklichen beruht also – wie Spaemann insbesondere in seinem Buch „Personen“ (1996) zeigt – auf der Selbsterfahrung des Menschen als zeit-übergreifendes Subjekt des Wollens und Handelns.

Die Tatsache, daß der Mensch – und zwar von Natur aus – darauf angelegt ist, über die Natur hinauszugehen, eröffnet ihm den Raum der Freiheit und des ethischen Handelns. Spaemann hat dafür den schönen Ausdruck „Erwachen zur Vernunft“ gefunden. Erst in diesem Erwachen kommt für den Menschen die Natur als Natur zum Bewußtsein, was keineswegs bedeutet, daß die Natur – und insbesondere die eigene menschliche – nun zum beliebig manipulierbaren Objekt werden kann und darf. Der Mensch, gerade dann, wenn er nicht in pure Naturwüchsigkeit zurückfallen will, bleibt vielmehr auf die Natur verwiesen; sie gibt den Horizont ab, innerhalb dessen moralisches Handeln überhaupt erst möglich ist. So besagt der Satz, daß die Würde des Menschen unantastbar ist, ja nicht, daß er als  spirituelles Wesen zu respektieren ist, sondern daß er in seiner gesamten Natur, insbesondere als körperliches Wesen, zu achten ist.

Es ist unmöglich, hier auch nur einen annähernden Eindruck von dem Reichtum der ethischen Einsichten

Spaemanns zu geben, die er in zahlreichen Aufsätzen und insbesondere in dem Buch „Glück und Wohlwollen“ (1989) dargelegt hat, stets in einer unprätentiösen und in ihrer Schönheit an Goethe gemahnenden Sprache. Auf zwei wichtige Punkte sei dennoch kurz verwiesen:

 Die Natur des Menschen, zu der nicht nur das Erlernen einer Sprache, sondern ebenso die Ausbildung des Sinns für Gerechtigkeit und Wohlwollen, für Ehrfurcht und Schönheit und vieles mehr gehört, kann sich nur entfalten, wenn er in möglichst geordneten Bezügen aufwächst, die durch Familie, Nachbarschaft, Gemeinde, Tradition gegeben sind. Jede willkürliche Verletzung solch gewachsener Strukturen bedarf der Rechtfertigung, was insbesondere dem politischen Handeln Grenzen setzt.

Warum es vernünftig ist, an Gott zu glauben

Andererseits ergibt sich aus der natürlichen Ordnung der Nähe und Ferne, wie Spaemann in verschiedenen Aufsätzen gezeigt hat, auch eine abgestufte Verantwortlichkeit: So werden wir einer Mutter, die, weil sie einer universalistischen Ethik anhängt, sich um ihre eigenen Kinder nicht mehr sorgt als um Kinder der Nachbarn oder die Kinder in einem fernen Kontinent, keineswegs ein höheres moralisches Bewußtsein unterstellen. Letztlich entspringt die Auffassung, daß der Mensch, unabhängig von den natürlichen Gegebenheiten der Nähe und Ferne, gleichermaßen für das Geschehen in der ganzen Welt verantwortlich ist, der Anmaßung, die Position Gottes einnehmen zu können. 

Ein weiterer Aspekt des Philosophen Spaemann ist ihm selbst wohl der wichtigste: seine Verankerung im Christentum, in der katholischen Kirche. Daß der christliche Glaube sich ausweisen muß, ist für Spaemann eine Sache der intellektuellen Redlichkeit und selbstverständlich; daß er sich ausweisen kann, also vernünftiger Glaube ist, hat Spae-mann in vielen Aufsätzen zu zeigen versucht. Wie  Nietzsche ist er der Auffassung, daß, wenn Gott nicht existiert, der Glaube an die Wahrheit nichts als eine Illusion ist – Illusion nicht gegenüber einer tiefer liegenden Wahrheit, sondern als Ausdruck absoluter Nichtigkeit. Aber ganz anders als Nietzsche, der meinte, daß der Mensch nun als „Übermensch“ selbst die Position Gottes einnehmen muß, zieht Spaemann in seinem Buch „Der letzte Gottesbeweis“ (2007) die umgekehrte Folgerung: Weil es keinen Sinn hat, an der Möglichkeit von Wahrheit zu zweifeln, der Zweifel selbst vielmehr die Möglichkeit von Wahrheit voraussetzt, ist es vernünftig, an die Existenz Gottes zu glauben.

Schließlich sei noch auf eine Tugend verwiesen, die heute selten ist und die Spaemann ebenfalls in hohem Maß auszeichnet: die Tugend des Mutes, der Tapferkeit. Spaemann hat es immer verschmäht, aus Angst vor Beifall von der falschen Seite nicht öffentlich für das einzutreten, was er für richtig erkannt hat, etwa zu Fragen wie der Euthanasie, Abtreibung, Tierschutz, Atomenergie oder Einwanderung.

Das hohe Alter wartet mit mancherlei Mühen auf. Mögen ihm, dem Menschen und Philosophen, dem Lehrer und Freund, dem zur Wirklichkeit erwachten Christen  noch viele Jahre in möglichster Unbeschwertheit geschenkt sein. 






Dr. Dieter Freihoffer, Jahrgang 1950, studierte Physik und Philosophie. Von 1984 bis 1988 war er Stipendiat und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie beim Lehrstuhl von Professor Robert Spaemann. Später arbeitete er als Gymnasiallehrer.





Robert Spaemann

In Berlin am 5. Mai 1927 als Sohn des Kunsthistorikers und späteren, von Bischof Galen geweihten Priesters Heinrich Spaemann und seiner Frau Ruth Krämer (sie starb bereits 1936) zur Welt gekommen, studierte Robert

Spaemann Philosophie, Geschichte, Theologie und Romanistik an den Universitäten Münster, München, Fribourg (Schweiz) und Paris. Zu seinen philosophischen Lehrern gehörte Joachim Ritter in Münster; dort wurde er 1952 mit der Arbeit „Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration“ promoviert, zehn Jahre später habilitierte er sich. Spaemann lehrte als Professor für Philosophie an den Universitäten Stuttgart (bis 1968), Heidelberg (bis 1972) und zuletzt bis 1992 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Robert Spaemann veröffentlichte grundlegende Monographien zur

Ideengeschichte der Neuzeit, über Naturphilosophie, Anthropologie, Ethik und politische Philosophie. 2012 erschien bei Klett-Cotta eine „Autobiographie in Gesprächen“. Darin gibt Spaemann dem Focus-Journalisten Stephan Sattler Auskunft „Über Gott und die Welt“ (Haupttitel), angefangen von seinen Kindheitserinnerungen über die Studien- und 68er-Jahre bis in die Zeit nach seiner Emeritierung. (tha)