© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Dorn im Auge
Christian Dorn

Eine tote „Friedenstaube“ neben einer leeren, eingedrückten Coca-Cola-Dose auf dem grünen Rasen vor der Milchbar, an der Kreuzung zur Straße der Opfer des Faschismus, am 1. Mai 1990 in Halberstadt – dieses Bild erschien mir damals, trotz der allzu gestellten Anmutung, als ein Moment säkularer Offenbarung, den ich mit meiner russischen Fotokamera „Smena“ festhielt. Inzwischen ist mir auch ein Titel für die Aufnahme in den Sinn gekommen: „Pax Americana“. Mit diesem Spruch provoziere ich hin und wieder den russischen Betreiber des winzigen Cafés um die Ecke, der die Tasse schwarzen Kaffee als „Americano“ anbietet. Da – nach der klugen Beobachtung Roland Baaders – Wirtschaft verbindet, Politik aber trennt, will auch hier, in der Gastwirtschaft, das rechte Maß gewahrt sein.


Jüngst berichtet mir der Café-Besitzer, dessen Sendungsbewußtsein ihn zuweilen als einen leidenschaftlichen Botschafter Putins ausweist, von einer Talkshow im russischen Fernsehen, wo ein polnischer Studiogast vom „roten Faschismus“ der Sowjetunion gesprochen hatte. Daraufhin habe der ihm gegenüber sitzende Russe gedroht, dem Polen in die Fresse zu schlagen, nähme dieser noch einmal diese Worte in den Mund. Als der Pole seine Formulierung dennoch wiederholte, sei der Russe aufgesprungen und habe auf den Polen eingeschlagen, immer wieder. Fazit des sichtlich befriedigten russischen Gastwirts: „So muß man bei Provokationen reagieren!“ Zunächst amüsiert den Kopf schüttelnd, fühle ich mich unversehens heimatlos – jedenfalls bin ich sprachlos, als der Wirt an den 9. Mai erinnert, den offenbar heiligsten Feiertag Rußlands, an dem der „ruhmreiche“ Sieg über Deutschland gefeiert wird, und als ihm die wunderschöne französische Studentin wie selbstverständlich beipflichtet, auch bei ihnen werde dieses Datum, am 8. Mai, bis heute als Feiertag begangen. Ungläubig, vergeblich um Worte ringend, schaue ich die beiden an.


Wesenhaft ohnmächtig sind dagegen die Dinge am Straßenrand. Lautete die Parole hier einst „Heraus zum revolutionären 1. Mai“, erscheinen am frühen Morgen heutzutage jene vor den Häusern, die „abschiebepflichtig“ geworden sind: etwa flache weiße Ikea-Tische (selbiges Modell gleich in zwei Straßen), der Röhrenfernseher „GoldStar“, der Lady-Shaver „Venus“ und eine Sammlung privat bespielter VHS-Kassetten, darunter so skurrile Titel-Angaben wie „ALF / Kinski“, „McCartney live / Unter Geiern“ oder „The Big Lebowski / 007 Der Morgen stirbt nie“.