© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Die Wiederkehr der Wölfe
Fremde Täter: In „Masse und Macht“ analysiert Elias Canetti archaische Verhaltensweisen
Thorsten Hinz

Der Tod des 17jährigen Niklas P. wird wohl ungesühnt bleiben. Der Schüler war am 6. Mai 2016 in Bonn-Bad Godesberg von mehreren Männern einschlägiger Herkunft angegriffen worden. Sechs Tage später starb er an seinen schweren Kopfverletzungen, die ihm durch Tritte zugefügt worden waren. Der Staatsanwalt hat für den Hauptangeklagten einen Freispruch beantragt, weil eine eindeutige Zuordnung der Tat nicht möglich sei. Ob neue Ermittlungen zu einem Ergebnis führen werden, ist fraglich. Die Täter praktizieren das aus Mafia-Zusammenhängen bekannte „Gesetz des Schweigens“, die Omertà, wobei auch Zeugen unter Druck gesetzt werden. So wurde ein Belastungszeuge von einem der Angeklagten schwer verprügelt.

Die Bluttat weist Parallelen zur Tötung des 20jährigen Jonny K. im Oktober 2012 auf dem Berliner Alexanderplatz und des 25jährigen Daniel S. auf, der im März 2013 im niedersächsischen Kirchweyhe zu Tode getreten wurde. Stets waren die Täter junge Araber oder Türken, die schon zuvor durch Gewaltdelikte hervorgetreten waren. Die Opfer waren junge Deutsche, deren Harmlosigkeit mit der Aggressivität der Schläger kontrastierte. Die Überfälle wurden unprovoziert und aus der Überzahl heraus begangen. In keinem Fall lautete die Anklage auf Mord oder Totschlag, sondern lediglich auf Körperverletzung mit Todesfolge. Im Fall von Niklas P. wurde eine Vorschädigung geltend gemacht, ohne die der Tritt nicht tödlich gewesen wäre. Als ob ein Tritt gegen den Kopf nicht schon den Tötungsvorsatz, wenigstens aber die billigende Inkaufnahme des Todes implizieren würde!

Die Bluttaten erreichten immerhin die Öffentlichkeit. Es sind nur die exzessiven Schaumkronen auf einer Welle der Alltagsgewalt. Gerade im ehemaligen Diplomatenviertel Bad Godesberg hat der Zuzug von Migranten vermehrt Überfälle und brutale Attacken zur Folge. Es sei, schrieb ein Leser auf einen verharmlosenden Presseartikel, „hier gang und gäbe (...), daß muslimische Kinder deutsche Kinder erpressen“. 

Der Schriftsteller Akif Pirincci hatte in seinem 2013 publizierten Aufsatz „Das Schlachten hat begonnen“ die Tötungen eindringlich beschrieben: „Das Muster ist immer gleich. Eine Gruppe oder die herbeitelefonierte Kumpelschar umstellt das Opfer nach der Jagdstrategie von Wölfen, wobei die Delta- und Betatiere stets außen herumlaufen und für das einschüchternde Jagdgeheul sorgen und das Alphatier nach und nach von der Beute Stücke abzubeißen beginnt, bis am Ende alle über sie herfallen und hinrichten.“

Daraufhin wurde er zum Krypto-Nazi, zum Volksverhetzer und Haßprediger erklärt, der auf den Spuren von Goeb-bels wandele. Er würde muslimische Männer entmenschen und zu Tieren erklären. In Wahrheit sind die verwendeten Topoi in den Schriften zur Massenpsychologie üblich und Begriffe wie: Rudelverhalten, Alphatier, Leitwolf usw. auch zur Umgangssprache gehörig. Kein Qualitätsjournalist bemerkte die Verbindungslinien zu dem 1960 erschienenen Buch „Masse und Macht“ des Literaturnobelpreisträgers Elias Canetti. Der Schriftsteller, der 1939 wegen seiner jüdischen Herkunft nach England emigrieren mußte, analysierte darin seine Erfahrungen mit der Wiederkehr archaischer Verhaltensweisen, die er in der Weimarer Republik, dem autoritär regierten Österreich und dem Dritten Reich erlebt hatte.

Die Meute jagt ihre Opfer

Canetti geht von beziehungslosen, atomisierten Individuen in der modernen Gesellschaft aus, die im spontanen Massenerlebnis von ihrer Berührungsfurcht temporär erlöst werden. Wie aus dem zweiten Band seiner Autobiographie, „Die Fackel im Ohr“, hervorgeht, war der Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 sein Initialerlebnis. An diesem Tag waren nach dem Bekanntwerden eines offensichtlichen Unrechtsurteils gewaltige Protestzüge aus allen Teilen der Stadt vor dem Gebäude zusammengeströmt, das bald in Flammen aufging. Das Feuer bildete das „Massenkristall“, das die faszinierte Menge zusammenhielt. Canetti hatte sich ihr angeschlossen, teilte vollständig ihre Erregung und das Gefühl der Entgrenzung, das die Menschen zu äußersten Handlungen im Guten wie im Bösen inspiriert und sie bei der Gelegenheit abwechselnd zu Hetz- und Fluchtmassen formierte. Der Tag endete in einem Blutbad mit 89 Toten, die größtenteils durch Polizeikugeln verursacht wurden.

Die Meute ist die „ältere Einheit“ der Masse, eine kleinere, begrenzte Organisationsform, die archaischen Zeiten entstammt. Ihre Dichte ist weniger groß, dafür ist ihre Intensität und die Konzentration auf ein bestimmtes Ziel stärker. Canetti unterscheidet die Jagd-, Kriegs-, Klage- und Vermehrungsmeute, wobei die Arten ineinander übergehen können. 

„Die Menschen haben von den Wölfen gelernt. In manchen Tänzen wurde das Wolfsein sozusagen eingeübt. (...) Ich verwende den Ausdruck ‘Meute’ für Menschen statt für Tiere, weil er das Gemeinsame der eiligen Bewegung und das konkrete Ziel vor Augen (...) am besten bezeichnet.“ Der Wolf-Mensch-Vergleich bedeutet also mitnichten eine Entmenschung, sondern er stellt Parallelen und anthropologische Konstanten fest. In den gewalttätigen Jugendbanden, die vor dem Hintergrund der Großfamilie, des Clans oder der ethnisch-religiösen Gemeinschaft zusammenfinden, bricht die Meute in die Gegenwart ein. Die modern sozialisierten, vereinzelten deutschen Jugendlichen stehen ihnen wehrlos gegenüber.

Speziell zur Jagdmeute schreibt Canetti, sie sei „einseitig“. Die Opfer, die gejagt werden, versuchen ihrerseits nicht, „Menschen zu umzingeln oder zu erjagen. Sie sind auf der Flucht, und wenn sie sich manchmal doch zur Wehr setzen, so geschieht das in dem Augenblick, in dem man sie töten will. Meist sind sie gar nicht imstande, sich dann noch gegen den Menschen zu wehren.“ Genau das war der Fall bei den Getöteten Jonny K., Daniel S. und Niklas P.

„Die Erregung steigert sich während der Jagd, sie äußert sich in Rufen von einem Jäger zum andern, die den Blutdurst steigern.“ Hat die Meute das Opfer erreicht, „hat jeder zum Töten Gelegenheit, und jeder versucht es“. Nichts anderes hatte Pirincci festgestellt.

Die Meute, so Canetti, ist begrenzt, aber sie wünscht nichts heftiger, „als mehr zu sein“. Das ist nicht nur quantitativ zu verstehen. Es geht ihren Mitgliedern auch um die Steigerung des Selbstgefühls und um ihre gesellschaftliche Rangerhöhung. Das Mittel dazu ist die Angst, die sie verbreiten. Den meisten Jugendlichen, die der Meute angehören, geht es in Deutschland materiell besser als in ihren Herkunftsländern. Doch während beispielsweise die Polen in Deutschland sich bis zur Ununterscheidbarkeit assimilieren und die äußerlich differierenden Vietnamesen durch schulische Leistungen hervorstechen, fehlt es vielen muslimischen Jugendlichen an Befähigungen, um reguläre gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Die Hetzjagd ist der Versuch, das eigene Versagen auf das Jagdopfer abzulenken und mit ihm auszulöschen. 

„Kriegsreligion“ und „Klagereligion“ 

Bedeutsam wird in dem Zusammenhang auch der qualitative Unterschied der Religionen. Canetti nennt den Islam eine „Kriegsreligion“. Das Christentum sei hingegen zu einer „Klagereligion“ geworden: Die einstige „Jagd- oder Hetzmeute entsühnt sich als Klagemeute.“ Folglich haben wir es mit dem Zusammenprall unterschiedlicher Reflexions- und Entwicklungsstufen, mit einem objektiven „Kampf der Kulturen“ zu tun. Eine Politik, die vorsätzlich die Konflikte mildernde räumliche Distanz zwischen ihren Protagonisten aufhebt, ist gemeingefährlich.

Selber wehr- und satisfaktionsunfähig und gefangen in einer teils relativistischen, teils sozialtechnisch beschränkten Begrifflichkeit, flüchten die Verwalter und Deuter des bundesdeutschen Status quo sich in dessen Ästhetisierung. Exemplarisch dafür ist die berüchtigte Eloge im Berliner Tagesspiegel auf die „jungen, mutigen, mobilen, hungrigen, risikobereiten, initiativen“ Männer, die in dem Satz gipfelte: „Lieber ein paar junge, ausländische Intensivtäter als ein Heer von alten, intensiv passiven Eingeborenen.“

Die Restfurcht wird auf Kritiker und Andersdenkende projiziert. Auf diese stürzt sich anschließend die „Hetzmeute der Rechtgläubigen“ (Peter Furth), „die verächtlichste und zugleich stabilste Form“ (Canetti) der Hetz- und Jagdgesellschaft, die sich vor allem medial und zivilgesellschaftlich ausagiert. Die Vorstellung, daß beide Meuten sich in ihrer Lust am „Zusammen-Töten“ (Canetti) verbünden und auf einen gemeinsamen Gegner einigen könnten, ist eine furchtbare, doch keineswegs unwahrscheinliche Zukunftsvision.