© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Taliban erfreuen sich an brutaler Siegesserie
Afghanistan: Die Armee ist dem Ansturm der Taliban schon längst nicht mehr gewachsen / Moskaus neue Spiellaune im Great Game
Marc Zoellner

Es ist eine beispiellose Siegesserie, welche die Taliban in Afghanistan derzeit verzeichnen – zumindest, wenn man den Pressemeldungen der radikalislamischen Miliz Glauben schenken mag: So starben allein am vergangenen Mittwoch, berichtet die taliban-eigene Nachrichtenagentur „Voice of Jihad“, im Verlauf zweier Operationen der Aufständischen in der nordöstlichen, an Tadschikistan grenzenden Provinz Badachschan sowie im zentralöstlichen Lugar rund zwanzig Soldaten der Zentralregierung und ein US-Soldat. 

Polizisten als Überläufer sind keine Seltenheit

Nur einen Tag zuvor töteten Talibankämpfer 23 Soldaten im nördlichen Tachar, wo sie mehrere Kommandoposten überrannten und Waffen sowie gepanzerte Fahrzeuge erbeuteten. Am selben Tag stürmten Dschihadisten im gut fünfhundert Kilometer entfernten Herat einen Armeestützpunkt und töteten während der mehrstündigen Kämpfe mindestens 19 Soldaten. Und in Faryab an der Grenze zu Turkmenistan, erklärten die Taliban, seien gleich fünfzehn Angehörige der paramilitärischen Lokalen Afghanischen Polizei (ALP) zu den Aufständischen übergelaufen – mitsamt ihrer Ausrüstung.

Auffällig sind vor allem drei Dinge: Die Zahl der Opfer wächst kontinuierlich – auch wenn die Taliban aus Gründen der Kampfmoral gern zu Übertreibungen neigen. Deren Operationen verlagern sich kontinuierlich von Süd nach Nord, in den Landesteil, der vor gut zwei Jahren noch als relativ sicher galt. 

Insbesondere sind vom Vorstoß der Taliban in ihrer alljährlichen Frühjahrsoffensive dieses Jahr nicht mehr bevorzugt die paschtunischen Provinzen an der Grenze zu Pakistan betroffen, sondern gerade jene der ethnischen Minderheiten der Vielvölkerrepublik am Hindukusch: der Turkmenen und Tadschiken, die zusammen etwa dreißig Prozent der Bevölkerung ausmachen; der Usbeken, Kirgisen und Hazara.

Daß die afghanische Armee dem Ansturm der Taliban schon längst nicht mehr gewachsen ist, mußte die von der internationalen Koalition gestützte Landesregierung zuletzt am 21. April geschockt konstatieren: Bei der Erstürmung der Kaserne des 209. Shaheen-Korps in der Provinz Balch durch zehn verkleidete Talibananhänger starben an jenem Freitag über 135 Soldaten der Afghanischen Naionalarmee. 

Es war der folgenschwerste Angriff der Taliban seit ihrer Vertreibung aus Kabul im November 2001 und gerade am Rande Masar-e Scharifs, jener Stadt, die von den US-geführten Streitkräften vor sechzehn Jahren als erste in Afghanistan von den Taliban befreit worden war. 

Nur wenige Kilometer von der betroffenen Kaserne entfernt liegt auch das Camp Marmal, das Feldlager der Bundeswehr in Afghanistan. Rund 800 deutsche Soldaten verrichten dort ihren Dienst und fliegen beinahe täglich mit Helikoptern nach Shaheen, um die dortigen afghanischen Kollegen militärisch zu schulen. Daß am Ende keine Bundeswehrangehörigen unter den Opfern zu beklagen waren, war reinem Glück zu verdanken.

Die plötzliche Schlagkraft der Taliban lädt viele Beobachter zu Spekulationen über neue Verbündete der Dschihadisten ein. Relativ gute Beziehungen ranghoher Talibankommandeure zum pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) wurden oft schon gemutmaßt – und das bereits seit dem ersten Talibanvorstoß auf Kabul während der 1990er Jahre. 

Doch in den vergangenen Jahren haben sich diese Beziehungen abgekühlt; insbesondere aufgrund Pakistans eigener Sorge um seine staatliche Integrität, welche durch die separatistischen Bestrebungen von Taliban-Splittergruppen im unwegsamen Stammesgebiet der Hochgebirge bedroht wird. 

Als neuen und alten Akteur im „Great Game“, dem „Großen Spiel“ um die Vorherrschaft in Zentralasien, vermuten westliche Geheimdienste nun vor allem Moskau, als diplomatischen Wegbereiter einer Beteiligung der Taliban an der Macht in Afghanistan – und ebenso als logistischen Unterstützer der Radikalislamisten.

Rußland sieht US-Präsenz als Bedrohung

Die Taliban selbst bestreiten jegliche Verbindung zum Kreml. Doch Rußland macht um seine Ambitionen am Hindukusch längst keinen Hehl mehr: Denn natürlich teilten Mokau und die Taliban „viele gemeinsame Interessen“ in Afghanistan, bestätigte Rußlands Sondergesandter in der Region, Zamir Kabulov, Ende März im Interview mit der Nachrichtenagentur Bloomberg – beispielsweise bei der Vertreibung von IS-Anhängern aus Afghanistan, aber auch bei jener der Isaf-Truppen. Denn auch letztere, so Kabulov, sei „natürlich gerechtfertigt“.

Tatsächlich betrachte Rußland „die US-Stützpunkte in Afghanistan als Bedrohung seiner Interessen“, bestätigt Petr Topychkanov, Analyst am Carnegie Moscow Center, die Existenz diplomatischer Kanäle zwischen Moskau und den Taliban zur Erfüllung gemeinsamer Ziele. Hingegen interessiere sich Moskau eher nicht dafür, ob Afghanistan nun ein demokratischer oder ein islamistischer Staat sei.

Von letzterem seien die Taliban sowieso bereits seit langem abgewichen, beschwichtigt Zamir Kabulov. „Sie haben das Konzept des weltweiten Dschihad aufgegeben und sich zu einer nationalen Streitmacht gewandelt“, lobte Kabulov die radikalislamische Miliz in höchsten Tönen – mit deutlich angehängter Warnung in Richtung Washington: „Die Vereinigten Staaten haben uns und anderen nicht vorzuschreiben, was wir in Afghanistan zu tun haben.“