© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Ein Spiel mit dem Feuer
Trotz Provokationen durch immer neue Waffentests und martialische Rhetorik: Nordkorea wird Atommacht bleiben. Für Amerika bleibt nichts als drohen und verhandeln
Christian Rudolf

Treffend war der Ausspruch von US-Außenminister John Kerry vom Juni 2011. Nordkorea sei für die Vereinigten Staaten zum „Land der lausigen Optionen“ geworden. Das war noch zu Lebzeiten von Diktator Kim Jong-il. Nach dessen Tod im Dezember 2011 übernahm dessen jüngster Sohn Kim Jong-un die Herrschaft in dem kommunistisch regierten Staat. Wenige Monate später rief er sein Reich offiziell zur Atommacht aus.

Das Diktum John Kerrys hat seine Gültigkeit bis heute behalten. Die neue US-Regierung kann nicht untätig zusehen, wie Nordkorea nuklear bestückte Interkontinentalraketen entwickelt, die die amerikanische Westküste und Europa erreichen können. Auf seiner Asienreise Mitte April betonte Vize-Präsident Mike Pence, die Zeit der „strategischen Geduld“ sei vorbei. Der Ansatz der Obama-Politik war es, von Pjöngjang Vorleistungen zu erwarten, darüber hinaus aber zuzuwarten. Dem Ziel einer atomaren Abrüstung Nordkoreas ist Trumps Amtsvorgänger keinen Schritt näher gekommen. Viel mehr als Druck auszuüben und mit dem Säbel zu rasseln bietet sich allerdings auch weiterhin nicht an.

Für ein tatsächliches militärisches Vorgehen gegen das Regime in Pjöngjang und dessen Atomwaffenprogramm ist es wegen der beeindruckenden Stärke der nordkoreanischen Streitkräfte längst zu spät. Weil zudem der militärische Beistandspakt von 1961 zwischen Nordkorea und seiner Schutzmacht China weiterhin besteht, birgt jeder Waffengang das Risiko einer unkontrollierbaren Eskalation mit unabsehbaren Folgen. Mindestens der Vernichtung der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Der Mittelpunkt der Metropolregion Sudogwon, dem mit über 24 Millionen Einwohnern fünftgrößten Ballungsraum der Welt, liegt in Reichweite der nordkoreanischen Artillerie, ebenso die japanischen Megastädte. Peking warnte vergangene Woche vor „unvorstellbaren Konsequenzen“, sollte es auf der Koreanischen Halbinsel zu einem Krieg kommen.

Die Drohungen aus Pjöngjang mit totaler Zerstörung von Südkorea, Japan und den USA sind Legion. Erst kürzlich schrieb die Parteizeitung Rodong Sinmun: „Sollten wir unseren gewaltigen Präventivschlag ausführen, wird er nicht nur vollständig und sofort die Invasionstruppen der US-Imperialisten in Südkorea und Umgebung, sondern auch das US-Festland auslöschen und sie zu Asche verwandeln.“ Nordkorea sei auf jegliche Angriffe der USA vorbereitet, Vertreter Pjöngjangs bei den Vereinten Nationen drohten mit einem Nuklearschlag.

Nordkoreas Truppen würden den Süden überrennen

Daß diese für mitteleuropäische Ohren irrsinnig wirkenden Ankündigungen einen realen Kern haben, bestätigen Militärexperten. Die totalitäre Kim-Diktatur verfügt über die zweitgrößten Land- und Luftstreitkräfte Asiens und die viertgrößte Armee der Welt. Bei einer Einwohnerzahl von 24 Millionen stehen 1,2 Millionen Soldaten ständig in den Kasernen bereit, dazu sollen sechs bis sieben Millionen Reservisten stoßen können. 545 Kampfflugzeuge sind im Dienst, dazu 3.500 leichte und schwere Panzer. Die zahllosen Buchten der Küste sind Heimathäfen für über 400 Kriegsschiffe. Mit ermittelten 73 Unterseebooten hat Nordkorea eine der größten U-Boot-Flotten der Welt. Zum Vergleich: Das US-Militär betreibt 193 Kriegsschiffe, 68 U-Boote und zehn Flugzeugträger. Im April 2016 gelang Pjöngjang das prestigeträchtige Vorhaben, eine ballistische Rakete von einem getauchten U-Boot abzufeuern, bei einem weiteren Abschuß im August flog die Rakete 500 Kilometer weit.

Nach älteren Studien des südkoreanischen Economic Research Institute über einen wahrscheinlichen Kriegsverlauf zwischen beiden koreanischen Staaten würden die kommunistischen Truppen schnell Gelände erobern. Die südlich der Demilitarisierten Zone (DMZ) stationierte US-Armee könne durch Angriffe des Nordens in weniger als drei Stunden vernichtet werden, warnte Thomas A. Schwartz, früherer Kommandeur der US-Streitkräfte in Südkorea. Nordkorea habe in jedem Fall die Kapazität, die USA in einen großangelegten Krieg zu verwickeln. Pjöngjangs Szenario für den Fall eines US-Angriffs ist der totale Krieg, nicht die begrenzten Luftschläge oder regional bleibenden Konflikte der Gegenwart. Das Regime würde alle verfügbaren Mittel in die Waagschale werfen, denn einen Prestigeverlust kann sich die Kim-Dynastie nicht leisten.

Das Werden der Atommacht Nordkorea geht auf trickreiches Zusammenspiel mit der Sowjetunion zurück: Pjöngjang beugte sich 1985 dem Druck Moskaus und trat dem Atomwaffensperrvertrag bei. Nachdem die Amerikaner ihre Nuklearwaffen aus Südkorea abgezogen hatten, schlossen beide koreanische Staaten 1992 einen Vertrag, der die Halbinsel zur kernwaffenfreien Zone erklärte. Ein Jahr danach begannen Querelen wegen der Weigerung Pjöngjangs, Inspektoren der IAEO Zutritt zur mit sowjetischer Hilfe errichteten Kerntechnischen Anlage Nyongbyon zu gewähren. Mit dem Kreislauf aus Provokation, Krise, Verhandlungen und Zugeständnissen gewann Nordkorea Zeit, das Atomprogramm im geheimen fortzusetzen. Nordkorea trat 2003 aus dem internationalen Atomwaffensperrvertrag aus.

Seit 2006 haben die Ingenieure fünf Atombomben erfolgreich getestet und dabei die Explosivkraft stetig steigern können. Alle Versuche erfolgten unterirdisch auf dem Testgelände in Punggye-ri im gebirgigen Nordosten des Staates. Beim vorletzten Test im Januar 2016 soll nach Angaben des Regimes eine Wasserstoffbombe planmäßig ausprobiert worden sein. Die koreanische Halbinsel ist heute wieder nuklear: Daß Nordkorea Atomwaffen besitzt, wird von Experten nicht bezweifelt, unklar bleibt deren Zahl (Schätzungen reichen von einem Dutzend bis zwanzig) und wann es gelingt, diese auf Gefechtskopfgröße zu verkleinern, die auf Trägerraketen passen. Das Ob steht außer Frage. Derzeit wird an einer Interkontinentalrakete des Typs Taepodong-2 gearbeitet. Sie könnte die Westküste der USA erreichen. Und Europa.

Eine Raketenmacht ist Nordkorea indes schon seit Jahrzehnten: Das Militär verfügt über eine dreistellige Zahl von Mittelstreckenraketen des Typs Rodong-1, deren Gefechtskopf konventionell, mit Streumunition sowie mit ABC-Waffen bestückt werden kann. Vergangenen Samstag testete das Militär abermals eine Mittelstreckenrakete. Der Test sei mißlungen, die Rakete in 71 Metern Höhe auseinandergebrochen, berichtete das südkoreanische Militär. Nach US-Beobachtungen soll es sich um eine Rakete des Typs KN-17 gehandelt haben.

Nordkorea verfügt über ein großes Arsenal von biologischen und chemischen Kampfstoffen, hielt das Büro des US-Verteidigungsministers in seinem Bericht an den Kongreß 2015 fest. Der kommunistische Staat begann in den achtziger Jahren mit der Herstellung chemischer Waffen. 2.500 bis 5.000 Tonnen solcher Kampfstoffe sollen in den zahllosen über das Land verstreuten unterirdischen Bunkern lagern, schätzt das südkoreanische Verteidigungsministerium. Sowohl die Soldaten wie auch die Zivilbevölkerung üben ständig die Abwehr biochemischer Angriffe. Die Chemiewaffenkonvention von 1997 hat Pjöngjang nicht unterzeichnet. Ob Milzbrand-, Pest- oder Pockenerreger: Nordkorea produziert auch biologische Wirkstoffe selbst und setzt sie in Gefechtsköpfe von Raketen.

Weltgrößte Spezialtruppen, 6.000 Cyberkrieger

Die Armee des Nordens ist für einen Blitzkrieg gerüstet. Die Masse der mechanisierten Truppen und Panzereinheiten sind so disloziert, daß sie jederzeit die Verteidigungsanlagen südlich der DMZ überrennen können. Die Angreifer erhielten Unterstützung durch Kampfflugzeuge und -hubschrauber. Die Truppe gilt als stramm trainiert, hochmotiviert, sei es durch Indoktrination oder durch Angst, absolut loyal gegenüber dem Führer Kim Jong-un und ideologisch so gedrillt, bis zur letzten Patrone zu kämpfen. Während die Panzer der USA für offene Feldschlachten ausgerichtet sind und damit im Irakkrieg erfolgreich waren, hat Nordkorea Panzer entwickelt, die ideal auf die speziellen geographischen Gegebenheiten abgestimmt sind. Die US-Panzer kämen hier nicht weit. Das Landesinnere ist gebirgig und von unwegsamen Flußtälern durchzogen. Die nordkoreanischen Chun-ma-ho-Kampfpanzer können steile Hänge überwinden und tiefe Flüsse durchqueren.

Die Nordkoreanischen Spezialoperationskräfte (NKSOF) sind mit rund 200.000 Soldaten (laut Weißbuch des südkoreanischen Verteidigungsministeriums) die weltweit größten ihrer Art und nehmen es ihrem Selbstverständnis nach mit den US Navy Seals auf. Sie teilen sich auf in leichte Infanteriebrigaden, Angriffsbrigaden, Luftlandebrigaden und von See angreifende Landungstruppen. Experten nehmen an, daß die Sniper-Brigaden Attentate in Südkorea und Japan ausführen sollen. Bei der Pjöngjanger Militärparade zu Ehren des 105. Geburtstags des Staatsgründers Kim Il-sung am 15. April präsentierte das Regime neue Elite-Einheiten. Zu den NKSOF gehören auch Gebirgsjäger mit Spezialfahrrädern für die Kriegsführung im Gebirge. Experten nehmen an, daß außer Nordkorea nur die Schweiz Bergradtruppen unterhält.

Die nordkoreanische Armee verfügte 2014 über mindestens 6.000 Cyberkrieger. Das geht aus dem Weißbuch des südkoreanischen Verteidigungsministeriums hervor. Ziel ist es, westliche militärische Operationen zu stoppen sowie Infrastruktur des Südens lahmzulegen. Die zuletzt rasant wachsende Truppe wird für Angriffe auf Banken in 18 verschiedenen Ländern verantwortlich gemacht. Das erbeutete Geld werde auch für das Nuklearprogramm gebraucht, so ein Militärexperte.

Um Kurz- und Mittelstreckenraketen passiv zu begegnen, haben die USA begonnen, das Raketenabwehrsystem THAAD in Südkorea aufzubauen. Vergangene Woche wurden Bauteile auf ein Gelände in der Provinz Gyeongsang gebracht. Das System soll bereits einsatzbereit sein. Ein Flottenverband um den Flugzeugträger „USS Carl Vinsson“ erreichte die Gewässer in der Nähe der Koreanischen Halbinsel. Andere Optionen als diese defensiv wirkenden Maßnahmen haben die Vereinigten Staaten de facto nicht. Die nuklearen Fähigkeiten Pjöngjangs durch militärische Gewalt, etwa durch den Abwurf bunkerbrechender Bomben vernichten zu wollen, hieße den Funken an die Lunte zu legen. Also wird Washington über kurz oder lang wieder verhandeln müssen.

Foto: Militärmanöver der Koreanischen Volksarmee an der Küste: Das Foto wurde am 26. April von der zentralen staatlichen Nachrichtenagentur Nordkoreas, der KCNA, verbreitet. Unabhängige Journalisten waren nicht zugelassen. Nordkorea ist der am meisten militarisierte Staat der Welt.  Etwa 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gehen an die Streit-kräfte.