© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/17 / 28. April 2017

Abgefallen von ihrer Wertegemeinschaft
Die postmarxistische Politologin Chantal Mouffe und ihre Absage an die kosmopolitische Illusion
Klaus Hornung

Daß die Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus den politischen Fugen geraten ist, ist ein inzwischen vielfach geteiltes Urteil. Unsicher sind indes die Meinungen über die Gründe. Nach 1989/90 schienen die USA und „der Westen“ die Sieger im Kalten Krieg zu sein, die Vereinigten Staaten als „einzige Weltmacht“ und ihr Gesellschaftsmodell als Muster für die Welt.

Unter der Mehrzahl der westlichen Sozial- und Politikwissenschaftler, so auch den meisten ihrer Kollegen im renommierten Pariser Collège international de philosophie, verbreitete sich die Vision einer künftigen „One World“ ohne größere Kriege und Konflikte, konzentriert auf den ökonomischen Austausch und auf ein fortdauerndes Wachstum in einer „sozialdemokratischen“ Zukunft.

Verrat am Kosmopolitenclub um Habermas und Co.

Dann kam der Angriff des militanten Islam am 11. September 2001 auf die Machtzentren der USA, der eine neue Epoche internationaler Konflikte eröffnete, eine historische Zäsur, unter deren Eindruck die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, die in London und anderen Universitäten gelehrt hatte, einen aufsehenerregenden Essay „On the Political“ (New York und London 2005) veröffentlichte. 

Mouffe war durch ein Werk über Antonio Gramsci, „Hegemonie und radikale Demokratie“ (1985), international bekanntgeworden und wurde eher dem Postmarxismus zugerechnet. Nun stand ihre Kritik der Hegemonialstrategie der USA in Afghanistan (2001) und im Irak (2003) im Vordergrund, die eklatant scheiterte, die Vereinigten Staaten letztlich in die Defensive zwang und eine neue multipolare Struktur der internationalen Politik eröffnete. 

Zugleich galt Mouffes Kritik aber auch der „kosmopolitischen Illusion“ des Westens, der nach 1990 immer mehr unter dem Einfluß des Mainstreams der westlichen Sozial- und Politikwissenschaften, etwa Ulrich Becks, Antony Giddens und Jürgens Habermas’ stand und sich von der klassischen Lehre der Politik und ihrer Deutung von Konfliktursachen verabschiedet hatte. Ihre Kritik dieser westlichen Politiktheorie und -praxis, ihr Plädoyer für ein neues multipolares internationales Mächtekonzert mußte im wissenschaftlichen Establishment schon deshalb Aufsehen erregen, weil sie sich von ihrem bisherigen marxistischen Internationalismus entfernte und nicht zuletzt, weil sie nun auch Argumente aufnahm, die ausgerechnet von dem „umstrittenen“ deutschen Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt und seinem nach 1945 perhorreszierten Freund-Feind-Prinzip stammten. 

Frau Mouffe nahm Schmitts Ansatz mit Gelassenheit auf, denn auch sie versteht die internationale Politik als Konsequenz aus der Pluralität der Staaten, Völker und Kulturen. Sie begründet ihre Ablehnung jedweden Hegemonismus insbesondere mit der geschichtlichen Erfahrung der Epoche von 1789 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges mit ihren absoluten, totalen Kriegen und ihrer Tendenz zur Vernichtung und Zerstörung des besiegten Feindes, die nicht selten früher oder später auch die des Siegers einschlossen. Es war kein Zufall, daß die Kriegstheorien dieser Epoche von Clausewitz’ Vernichtungsstrategie bis zum „unconditional surrender“ und Umerziehungswahn der Alliierten 1945 reichten. Mouffe folgert daraus die Notwendigkeit der Korrektur von Schmitts „antagonistischem“ Freund-Feind-Prinzip durch das „agonistische“ Prinzip als Verständnis der internationalen Konflikte zwischen Gegnern, die sich auf moralisch und politisch gleicher „Augenhöhe“ gegenüberstehen und nicht auf die wechselseitige Vernichtung, sondern auf wechselseitige „Eindämmung“ abzielen. 

Plädoyer für eine neues multipolares Mächtekonzert

In gewisser Weise kehrt sie damit zu der klassischen europäischen Politik und Strategie von vor 1789, vor der Epoche der Revolutionen, zurück und geht es ihr um Konfliktbändigung durch Vernunft aufgrund der Katastrophenerfahrungen der „konfessionellen“, ideologischen Konflikte und Kriege der beiden letzten Jahrhunderte.

Die mittlerweile emeritierte Belgierin beschreitet damit einen dritten Weg zwischen der antagonistischen Freund-Feind-Lehre und ihren katastrophalen Folgen, zumal in den beiden Weltkriegen auf der einen Seite und den kosmopolitischen Illusion auf der anderen. Letztere können mit vielen Beispielen der Unsicherheit und Schwäche, der Defensive und des Rückzugs, des Vorrangs gesinnungsethischen Handelns vor verantwortungspolitischer Interessenwahrnehmung belegt werden, einer schwächlichen Politik, die schließlich in der großen deutschen und europäischen Migrationskrise ihren vorläufigen Höhepunkt fand und deren weiterer Verlauf und welthistorisches Ergebnis in der näheren und ferneren Zukunft zu erwarten sein wird.

Die realistische Wende der belgischen Politikwissenschaftlerin in der Theorie des Politischen und zumal ihr unaufgeregter Bezug auf Carl Schmitt hat international in der Sozial- und Politikwisssenschaft die Wellen hochschlagen lassen. Es war in der Tat ein weiter Weg von der Hegemonialtheorie Antonio Gramscis zu einem neuen realpolitischen Verständnis der Politik, das sie von den begonnenen Wandlungen der internationalen Beziehungen vorgezeichnet sieht. 

Am Beginn dieses Wandels stand das Scheitern der Hegemonialpolitik der Vereinigten Staaten im Nahen und Mittleren Osten, aus dem sie neue Leitlinien des politischen Handelns unter den Bedingungen einer wieder multipolaren Mächtekonstellation entstehen sieht. Im wissenschaftlichen Mainstream nimmt man ihr übel, daß sie sich von ihren früheren Positionen antikapitalistischer und „sozialdemokratischer“ Welfare-Politik abgewandt hat. 

Der Grund war ihre wachsende kritische Erkenntnis der Fehlwege der Politik des Westens, sowohl in den Versuchen der späten amerikanischen Hegemonialpolitik wie in den kosmopolitischen Illusionen und einseitig gesinnungsethischen Entscheidungen zumal der Europäer zu Lasten ihrer realen Interessen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Christian Geyer aus guten Gründen Frau Mouffes Essay in Anbetracht der europäischen Verwerfungen in der Flüchtlingspolitik kürzlich nicht zu Unrecht „das Buch der Stunde“ genannt.

Foto: Chnatal Mouffe 2013: Ein weiter Weg von der Hegemonialtheorie Antonio Gramscis zu einem neuen realpolitischen Verständnis der Politik