© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/17 / 28. April 2017

Exzentrischer Schwärmer
Luitgard Sofie Löw beleuchtet über Umwege die Vita des germanischen Ur- und Frühgeschichtlers Herman Wirth
Karlheinz Weißmann

Herman Wirth ist eine Unperson der Geistesgeschichte. Die positive Bezugnahme auf seine Arbeiten ist ausgeschlossen. Seine Bücher haben nach allgemeiner Überzeugung keinen wissenschaftlichen Wert. Feststellungen, die in scharfem Kontrast zum Selbstbewußtsein eines Mannes stehen, der glaubte, durch „Erberinnern“ privilegierten Zugang zu einer längst verschollenen „atlantiden“ Hochkultur zu haben. Der verdankte die Menschheit Wirths Meinung nach den Monotheismus, die Lehre vom sterbenden und auferstehenden Gott sowie das Mutterrecht. 

Wirth zog trotz oder wegen seiner Exzentrik begabte Schüler an und konnte so gewinnend auftreten, daß Mäzene ihm erhebliche Summen zur Verfügung stellten. Er war ein begeisternder Redner, der in seinen Vorträgen große Zuhörerzahlen erreichte, ein Mann, der trotz seiner Mitgliedschaft in der SS auch nach 1945 einen Kreis treuer und opferbereiter Jünger hatte und zuletzt noch, am Ende seines Lebens, subkutanen Einfluß auf die New-Age-Bewegung und den Feminismus ausübte.

Wenn schon keine Rezeption, dann müßte man doch eine kritische Auseinandersetzung mit einer solchen Gestalt erwarten. Aber abgesehen von den Bemerkungen Michael Katers in seiner älteren Untersuchung zum „Ahnenerbe“, einigen kenntnisreichen Beiträgen von Ingo Wiwjorra und der Bibliographie zur Primär- und Sekundärliteratur, die Eberhard Baumann für die „Toppenstedter Reihe“ zusammengestellt hat, findet sich wenig. 

Ein Hemmnis ist ohne Zweifel die Zerstreuung des Nachlasses, ein anderes die ungeheure Produktivität Wirths, ein drittes die Zahl der Einflüsse, die man rekonstruieren müßte. Insofern durfte man mit einiger Spannung die Publikation der Arbeit von Luitgard Sofie Löw erwarten. Allerdings irritiert schon die Umständlichkeit des Titels, und leider entspricht dieser der Unübersichtlichkeit des Inhalts. Immerhin wird auf den ersten einhundert Seiten die Biographie Wirths behandelt. Den Ausgangspunkt bildet Wirths Herkunft aus einer deutsch-niederländischen Familie, 1885 wurde er in Utrecht geboren. 

Dieser persönliche Hintergrund erklärt auch seinen frühen Einsatz für pangermanische Vorstellungen. Während des Ersten Weltkriegs war er für deutsche Stellen tätig, die die Angliederung Flanderns an das Reich vorbereiten sollten. Allerdings sorgte die Art seines Auftretens rasch für den Widerspruch der Verantwortlichen; ein Vorspiel jener Konflikte mit Institutionen, in die Wirth regelmäßig geraten sollte. Es folgte die Traumatisierung durch den Zusammenbruch von 1918, eine Übergangsphase, in der sich Wirth als später Wandervogel versuchte, der Anschluß an die völkische Bewegung, bald auch an die NSDAP, die Wirth aber aus taktischen Gründen wieder verließ. 

In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre widmete er sich ganz der Arbeit an seinem Hauptwerk, „Der Aufgang der Menschheit“, das nur durch die Förderung des Verlegers Eugen Diederichs erscheinen konnte. Gleichzeitig pflegte Wirth eine intensive Beziehung zu dem Bremer Großkaufmann Ludwig Roselius, den er zum Bau des „Atlantis-Hauses“ in der Böttcherstraße inspirierte. Aber auch die Geduld eines Diederichs oder eines Roselius hatte Grenzen, und die dauernden Querelen mit seinen Geldgebern führten dazu, daß Wirths Existenz und die seiner großen Familie wirtschaftlich bedroht war. 

Rettung schien da der Aufstieg des Nationalsozialismus zu bedeuten, und 1933 glaubte Wirth, seine Stunde sei gekommen. Er kehrte in die NSDAP zurück und erhielt Protektion von hoher Stelle. Zuletzt wurde noch seine private „Gesellschaft für germanische Ur- und Frühgeschichte“ in die Wissenschaftsorganisation der SS unter dem Namen „Ahnenerbe“ überführt. Aber diese Konjunktur zeigte keine Dauer. Hitler hatte sich immer gegen Wirths Annäherungsversuche gewehrt, und jetzt fiel er durch seine Unfähigkeit zum Haushalten und seine Disziplinlosigkeit auch bei Himmler in Ungnade. 

Trotz seiner Affinität zu vielen Ideen Wirths, hielt Himmler es nach außen lieber mit der etablierten Forschung als mit einem dilettierenden Schwärmer. Wirth behielt zwar ein schmales Einkommen, aber die späten Anläufe zur Habilitation schlugen alle fehl. Abgeschoben auf die Stelle eines Kustos, die er nicht einmal wahrnehmen durfte, überstand er den Zweiten Weltkrieg. Es folgte die Internierung im US-Lager Dachau, dann die Freilassung, die Übersiedlung nach Schweden, erneutes berufliches Scheitern, Rückkehr nach Deutschland und ein langer Ausklang, bis Wirth 1981 starb.

Dies im großen und ganzen Bekannte faßt Löw noch einmal kompakt zusammen. Über die Schwerpunktbildung – etwa in bezug auf die Auseinandersetzungen im Ahnenerbe – kann man diskutieren, aber dieser Einwand wiegt leicht gegenüber der merkwürdig unmotivierten Bezugnahme auf die Felsbildforschung, der sie größere Teile der Arbeit widmet. Die wird eingeleitet mit einer allgemeinen Darstellung zur Bedeutung der skandinavischen Felsbilder für die Archäologie, es folgt ein Abriß der Forschungsgeschichte, dann der Blick auf das besondere deutsche Interesse, dann ein Kapitel über Wirths Forschungsaufenthalte zur Erfassung von Felsbildern in den Jahren 1935 und 1936, etwas über „Felsbildabgüsse im 21. Jahrhundert“, dann zwei Abschnitte zur Theoriebildung Wirths im Hinblick auf „Geistesurgeschichte“ und deren Grundlage in der Symboldeutung, schließlich ein Katalog aller Abgüsse, die im Auftrag Wirths angefertigt wurden.

Der schon aus dieser Aufzählung ersichtliche Mangel an Struktur entwertet die Arbeit von Luitgard Löw. Man wird also weiter auf eine gründliche Auseinandersetzung mit Wirth und seinem Werk warten müssen.

Luitgard Sofie Löw: Gottessohn und Mutter Erde auf bronzezeitlichen Felsbildern. Herman Wirth und die völkische Symbolforschung. Edition Peter Lang, Frankfurt am Main 2016, gebunden, 482 Seiten, Abbildungen, 84,95 Euro