© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/17 / 28. April 2017

Meisterwerke der Moderne
Plastiken: Eine Ausstellung in Paris würdigt den Bildhauer Auguste Rodin
Doris Blum

Das hundertste Todesjahr des großen Bildhauers Auguste Rodin (1840–1917) zelebriert das Pariser Grand Palais mit einer Jahrhundertschau. In einem schlichten, aber edlen Ambiente ganz in Weiß laden fast zweihundert Meisterwerke auf zwei Etagen den Zuschauer zu einer unvergeßlichen Wiederbegegnung mit einem der Wegbereiter der Moderne ein. Von den Zeitgenossen wird er sowohl bewundert als auch angefeindet: ein Künstler, der sich dem Akademiebetrieb mit seinem klassischen Kanon widersetzt und neue Wege geht. Er will näher dran sein am Leben und am Menschen. „Die Kunst ist eine wunderbare Lektion in Ehrlichkeit“, propagiert er.

Gleich mit einem seiner ersten Werke, dem Bronzekopf „Mann mit zerbrochener Nase“ von 1864, mit dem sich Rodin bei der Akademie vorstellt, fällt der 24jährige gnadenlos durch. So einen Ausbund an Häßlichkeit und soviel Realismus wolle niemand sehen, hieß es. Tatsächlich hat der elende Clochard Bibi, der manchmal in Rodins Atelier schlafen darf, ihm Modell gestanden – kostenlos. Noch wichtiger aber: in ihm hatte er gefunden, wonach er suchte, „die Schönheit eines Menschen, der gelebt und gelitten hat!“

Auf den etablierten Kunstbetrieb kann der junge Künstler nun nicht mehr zählen, seine Karriere schreitet trotzdem voran, allerdings immer wieder unterbrochen von Skandalen. Einen solchen beschwört zum Beispiel der berühmte „Denker“ herauf, den man hier im originalen Gips bewundern darf. Heute ist er als der Mensch im Aufbruch zum 20. Jahrhundert geradezu ein Markenzeichen Rodins und ein Meilenstein der Moderne, doch um 1880 kommt er gar nicht gut an. Abschätzig nennt man ihn bald nur noch den „Gorilla.“ Aber das ist Schnee von gestern. In der Pariser Schau gehört er zu den Lieblingen des Publikums.  

Ein unübersehbares Glanzstück dieser reichen Präsentation ist auch der großartige, knapp drei Meter hohe Honoré de Balzac (1799–1850). Der Schöpfer der „Menschlichen Komödie“ ist zu Rodins Zeiten längst eine Ikone. Der Schriftstellerverband unter seinem Präsidenten Emile Zola gibt die Statue 1891 in Auftrag. Doch die Enttäuschung der Notabeln über diesen unförmigen Koloß im viel zu weiten Morgenmantel ist so groß, daß man die Bestellung annulliert. Rodins Balzac wird zum Lacherfolg der Pariser Presse und zum Anlaß für beißenden Spott. Der Künstler beschließt, die Figur zu behalten, bis zu seinem Tod trennt er sich nicht mehr von ihr. Ein Balzac ohne Schnörkel, ein bestürzend ausdrucksstarker Kopf auf einer vierschrötigen undefinierbaren Masse aus Gips, reiner Geist, losgelöst von aller Körperlichkeit: das ist Rodins Hommage an das auch von ihm verehrte Genie der französischen Literatur. Doch seine abstrakte Vision kommt viel zu früh für die damalige Zeit.

Ins Auge fallen „Die Bürger von Calais,“ jene sechs tapferen Männer, die während des Hundertjährigen Krieges mit England ihre Stadt vor Plünderung und Zerstörung bewahren, indem sie sich selbst den Henkern als Geiseln ausliefern. Der Bildhauer stellt sie nicht – wie von den Auftraggebern gewünscht –  als glorreiche Helden und Retter dar, sondern als ganz und gar unpatriotische, gequälte, zutiefst menschliche Kreaturen. Calais kauft ihm die Figuren nicht ab. Erst dreißig Jahre später findet die Gruppe endlich ihren Platz vor dem Rathaus der Stadt.

Ungemein anrührend und ein Treffpunkt für frisch verliebte Museumsbesucher ist „Der Kuß“ (1881/82), ein von Rodins langjähriger Geliebten Camille Claudel inspiriertes, innig umschlungenes Paar. So zärtlich und harmonisch wie es die edle Marmor-Statue glauben macht, ging es jedoch nicht immer zu in dieser zerstörerischen Beziehung zwischen dem Bildhauer und seiner gut zwanzig Jahre jüngeren Meisterschülerin. Als die beiden sich schließlich trennen, bleibt Camille gebrochen zurück – als Frau und als Künstlerin. Die letzten dreißig Jahre ihres Lebens fristet sie ein trauriges Los in einer Nervenheilanstalt. Erst in unserer Zeit findet sie allmählich die Anerkennung, die ihr gebührt – nicht zuletzt auch durch diese Ausstellung, die einige ihrer besten Arbeiten mit denen ihres Lehrers konfrontiert.

Zwei weitere Spitzenwerke Rodins – beide unvollendet – verdienen unbedingt Beachtung: der berühmte kraftvolle Torso „Schreitender Mann“ und die sublime „Danaide,“ die vor den Augen des Betrachters aus dem Marmorblock herauszuwachsen scheint, als werde sie gerade geboren. Sein großes Vorbild Michelangelo inspirierte den Franzosen zu der Kunst des „non finito“, die sein gesamtes Schaffen maßgeblich prägt. Die von platonischer Philosophie getragene Vorstellung von der Erlösung des Geistigen aus der Materie findet er etwa in Michelangelos Sklaven vorgeprägt. Rodin läßt in einem fortwährenden Schöpfungsprozeß menschliche Existenz in all ihren Facetten förmlich aus dem Stein herausbrechen. 

Mit einem eindrucksvollen Arsenal von Händen klingt die grandiose Schau leise und nachhaltig aus. Hände sind für den „Vater der modernen Plastik“ der wichtigste Körperteil. In seinem Spätwerk nach 1900 spielen sie einen immer stärkeren Solopart: Liebende Hände, geschundene Hände, die Hand Gottes, die den ersten Menschen formt, die drohende Hand des Teufels, die Totenhand, die aus dem Grab herausragt. Rodins Hände führen ein Eigenleben. Und mit ihren zehn Fingern erzählen sie ein ganzes Leben.

Die Rodin-Jahrhundertschau ist bis zum  31. Juli im Grand Palais, 3 avenue du Géneral Eisenhower, täglich außer dienstags von 10 bis 20 Uhr, Mi., Fr., Sa. bis 22 Uhr, zu sehen. Der Katalog kostet 49 Euro.

 www.grandpalais.fr