© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/17 / 21. April 2017

Traditionelle Uneinigkeit
Syrien: Die Chemieattacke in Idlib spaltet Ost und West / Schwierige Suche nach dem Urheber
Michael Link

So einig waren sich die G7-Staaten schon lange nicht mehr: „Keine politische Lösung in Syrien mit Assad“, ließen sie bei ihrem Treffen am 11. April im italienischen Lucca verlautbaren. Der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault betonte, daß sich die zum Thema Syrien um Katar, Jordanien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und die Türkei erweiterte G7-Runde geschlossen hinter die Forderung nach einer Ablösung des syrischen Machthabers Baschar al-Assad gestellt habe. 

Die gemeinsame Haltung der G7-Außenminister kann als eine neue Ausrichtung im Syrien-Konflikt verstanden werden. Noch Ende März sagte die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Nikki Haley, eine Ablösung Assads habe „keine Priorität“. Am Tag nach dem G7-Gipfel reiste US-Außenminister Rex Tillerson nach Moskau, um den Druck auf Rußland in dieser Frage zu erhöhen. Bei seinem Antrittsbesuch beim Amtskollegen Sergej Lawrow versuchte er diesen zu überzeugen, einem Machtwechsel in Damaskus zuzustimmen.

Offiziell verfügt Syrien über keine Chemiewaffen 

Das Blatt zum Wenden gebracht hatte ein Giftgasangriff in Chan Scheichun in der nordsyrischen Provinz Idlib am 4. April. Bei dem Angriff auf den von Rebellen kontrollierten Ort waren mindestens 58 Menschen, darunter elf Kinder, getötet und rund 200 Menschen verletzt worden. Daraufhin befahl US-Präsident Donald Trump einen Vergeltungsangriff auf eine Luftwaffenbasis von Assads Truppen, die er für den Angriff in Chan Scheichun verantwortlich machte. 

Assad wies jede Schuld von sich. Die Giftgasattacke vom 4. April sei zu hundert Prozent konstruiert. Die Toten von Chan Scheichun würden nur als Vorwand für weitere Angriffe der US-Luftwaffe dienen, so Assad. Indes kündigte die Fact Finding Mission (FFM) der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) eine genaue Untersuchung des Vorfalles an.

Moskau zeigte sich allerdings skeptisch über die Arbeit der OPCW. „Die OPCW-Fahndungsmission arbeitet grundsätzlich aus der Ferne“, kritisierte Michail Uljanow, Direktor für Nichtweiterverbreitung und Rüstungskontrolle im Außenministerium Rußlands. Die Mission spreche zwar mit Zeugen, aber vor allem denjenigen, die gegen die syrische Regierung eingestellt seien. Die OPCW habe einen vorgegebenen Mechanismus, um Berichte von möglichen Verwendungen von chemischen Waffen zu etablieren. „Es sieht so aus, daß die OPCW schneller und unvoreingenommen ist, wenn sie auf eine Überprüfung der Verwendung von chemischen Waffen von Damaskus anstatt von Rebellen abzielt“, sagte Uljanow.

Der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Generalmajor Igor Konaschenkow, erinnerte daran, daß die syrische Regierung die chemischen Waffen, die Auslieferungsmöglichkeiten und alle Produktionsstätten von 2013 bis 2016 vollständig beseitigt habe: „Alle Lagerbestände wurden zerstört. Die verfügbaren Komponenten für die Herstellung von chemischen Waffen wurden aus Syrien entfernt und bei Unternehmen in den USA, Finnland, Großbritannien und Deutschland zerstört.“

Es sei inakzeptabel, ohne ein Ermittlungsverfahren zu dem Giftgasangriff durch internationale Experten Anschuldigungen zu erheben, stellte der russische Präsident Wladimir Putin in einem Gespräch mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu klar. Putin betonte zudem, daß Rußland keinen Erhebungen zu dem Chemiewaffeneinsatz vertrauen werde, die ausschließlich von westlichen Experten durchgeführt werden. 

Offiziell verfügt Syrien über kein chemisches Waffenarsenal. Nach einer Vereinbarung der USA mit Rußland zur Abrüstung der syrischen Chemiewaffen erklärte sich Damaskus vor vier Jahren  zur Vernichtung seiner Chemiewaffen bereit und unterzeichnete am 14. September 2013 das Chemiewaffen-Übereinkommen. Alle von Syrien gemeldeten Waffen wurden als Ergebnis einer Mission der OPCW und der UN in Zusammenarbeit mit der syrischen Regierung entfernt und außerhalb des syrischen Territoriums zerstört. Am 4. Januar 2016 schloß die von der OPCW beauftragte US-Firma Veolia in Texas die Entsorgung von 75 Zylindern mit Fluorwasserstoff ab. Die OPCW titelte: „Vernichtung der deklarierten syrischen Chemiewaffen ist abgeschlossen.“

Allerdings mehrten sich in den Nato-Staaten bald Zweifel, ob Syriens Erklärung über das Programm der chemischen Waffen an die OPCW vollständig und korrekt war. „Die syrische Regierung besitzt noch eine chemische Waffenkapazität“, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu am Rande des Außenministergipfels der G7 am 11. April in Lucca. Nach den vorliegenden Informationen habe das syrische Regime noch die Fähigkeit, chemische Waffen zu benutzen. „Entweder hat die syrische Regierung unehrlich gehandelt und nicht das ganze Arsenal der OPCW überlassen, oder Assad-freundliche Länder und Terrororganisationen haben das Regime mit neuen Waffen versorgt.“

Zur Untermauerung dieser These informierte die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu darüber, daß das „syrische Regime“ in den vergangenen drei Jahren für 162 chemische Attacken verantwortlich sei.

Schwierige Spurensuche in heißumkämpftem Gebiet 

Seit Jahren beschuldigen Rebellen und die syrische Regierung einander wiederholt, chemische Kampfstoffe einzusetzen. So warf die Regierung den Rebellen vor, im März 2013 in der Stadt Khan al-Assal nahe Aleppo mindestens 25 Menschen durch den Einsatz chemischer Waffen getötet zu haben. Fünf Monate später kamen in Ghuta bei mehreren Angriffen mit dem chemischen Kampfstoff Sarin mindestens 281 Menschen ums Leben. Die Rebellen machten dafür die Regierungstruppen verantwortlich. Mitte September 2013 erklärte ein UN-Bericht eher sibyllinisch, daß der Einsatz des Nervenkampfstoffes Sarin nachgewiesen worden sei.

Auch Informationen über die Geschehnisse in der nordwestlichen Provinz Idlib sind schwierig zu bekommen. Im Mittelpunkt stehen die anti-Assad Mediendienste Aleppo Media Center Syria, das von Großbritannien und der EU unterstützte Observatory for Human Rights (SOHR) sowie das 2011 von Fadel Abdul Ghani in London gegründete Syrian Network for Human Rights (SNHR). Einhellig machen sie Assad für die Giftgasattacke in Chan Scheichun verantwortlich. 

Sie stützen sich dabei auf Informationen des oppositionellen Idlib Health Directorate (IHD). Akribisch berichtet es auf Facebook über russische Luftangriffe auf das Krankenhaus in Maarat an-Numan am 3. April. Einen Tag später zeigt es um 9.30 Uhr die Einlieferung von mit „giftigen Gasen“ in Kontakt gekommenen Verletzten und spricht von einem Luftangriff. Kurz darauf aktualisiert IHD das Titelbild seiner Facebookseite: darauf ein Foto eines toten Kindes mit Schaum vor dem Mund sowie dem Titel „Chemical Genocide in Idlib countryside“. 

Gleichzeitig kritisierte IHD in einer gemeinsamen Erklärung mit der Syria Civil Defence (Organisation Weißhelme), einer vom britischen Ex-Offizier James Le Mesurier im März 2013 gegründeten privaten Zivilschutzorganisation, die Luftangriffe und forderte die internationale Gemeinschaft auf, ihrer Verantwortung nachzukommen. Das Idlib Health Directorate präsentierte ein Video, in dem IHD-Experten einen Bombentrichter auf einer Straße in Chan Scheichun untersuchen. IHD-Direktor Monzer Khalil kritisierte dazu in der New York Times erneut das Wegschauen der internationalen Gemeinschaft: „Es gibt uns das Gefühl, besiegt worden zu sein.“ 

Khalil steht seit Sommer 2015 der IHD vor. Kurz zuvor hatte die von der Türkei geförderte Rebellengruppe Dschaisch al-Fatah in Kooperation mit der radikalislamischen Jabhat al-Nusra, mittlerweile unter dem Namen Dschabhat Fatah asch-Scham firmierend, die Idlib-Provinz zurückerobert. 

Seitdem ist die Region Ziel syrischer, russischer, aber auch amerikanischer Luftangriffe. Angriffspunkte der US-Luftwaffe sind die extremistischen Milizen des neuen Bündnisses Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS). Ende März wurde laut US-Angaben der HTS-Offizielle Sheikh Abu al-Abbas al-Suri getötet, kurz darauf 27 HTS-Kämpfer sowie eine Führungsfigur der Dschaisch al-Fatah.