© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/17 / 21. April 2017

Michael Sandel. Der US-Philosoph füllt mit seinen Vorlesungen ganze Hallen
Der Superstar
Thomas Kuzias

In Deutschland zieht es die akademische Philosophie vor, zu aktuellen Krisen und Problemen eher zu schweigen. Einstmals allgegenwärtige „Großintellektuellen“ – Habermas und Co. – sind verstummt, ihre Autorität im Verschwinden begriffen. In den Vereinigten Staaten indes ist die Situation eine andere. Hier gibt es sie noch, die erfolgreichen Philosophen, denen die studentische Jugend zu Füßen liegt, beziehungsweise sitzt, denen die Öffentlichkeit zuhört und deren Einfluß auf echtem Publikumserfolg beruht.

Der US-amerikanische Philosoph Michael Sandel repräsentiert diesen Typus des öffentlichen Intellektuellen – der Fragen stellt, die auf den Grund der Dinge hinabzusteigen scheinen. Sandel, geboren 1953 in Minneapolis im Norden der USA, Schüler von Charles Taylor, hat über Jahrzehnte Politische Philosophie an der Universität Harvard gelehrt und gilt als Mitbegründer des sogenannten Kommunitarismus. Dieser kritisiert den Liberalismus und betont die wichtige Rolle der gern verschwiegenen gemeinschaftlichen Grundlagen historisch gewachsener Gesellschaften, auf denen der Wert der Freiheit erst aufbaut.

Sandels akademische Karriere ist ausgesprochen gediegen, seine Erfolge sind Welterfolge. Studenten in Asien und vor allem in China bilden seine größte Hörerschaft. Man vergleicht ihn gern mit einem Rockstar. Und wer seine massenwirksamen Auftritte in Stadien vor Zigtausenden Zuhörern beobachtet, versteht, daß hier nicht etwa ein Guru spricht, sondern ein Lehrer, der wirklich etwas zu sagen hat. Ein Akademiker, dessen moralische Reflexionen den amerikanischen Verhältnissen bis ins Innerste „nachdenken“. Sandel ist kein Ideologe, kein Sozialist, er ist nicht der Stichwortgeber von Bernie Sanders. Vielmehr ist er skeptisch, realistisch und stets moralisch-konkret.

An der Hartnäckigkeit und Intensität seines Denkens kann man nachvollziehen, wie groß die Spannungen in der US-Gesellschaft sind, die sich aus der Ökonomisierung aller Verhältnisse ergeben. Die Verwerfungen des dynamischen globalen Kapitalismus sind im Führungsland des Westens ein seriöses Thema, mehr als in Deutschland.

Und dennoch ist, wer Michael Sandel genau zuhört, letztlich enttäuscht. Denn sein Philosophieren mit den Massen bleibt stets im Sowohl-Als-auch stecken. Das Primat der Politik läßt sich durch seine ausgefeilten moralistischen Beispiele nicht aushebeln. Sandel versucht sich in der Mäeutik, der „Hebammenkunst“, des Sokrates – also den Menschen durch die Anregung zum Nachdenken zur Erkenntnis zur verhelfen. Diese in Massenveranstaltungen vor aller Augen als Erfolgsrezept zu zelebrieren, gerät unter den Verdacht unseres deutschen Vorurteils: Die Philosophie gehört ins Oberseminar! Aber eigentlich weiß man das auch in den Vereinigten Staaten.