© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

Erneuerung oder Austausch
Herwig Birg über die Erneuerung der Gesellschaft durch Geburten oder Zuwanderung aus dem Ausland
Dirk Glaser

Zumindest einen positiven Effekt hat die von Angela Merkels schwarz-roter Regierungskoalition seit dem Sommer 2015 geförderte orientalisch-afrikanische Masseneinwanderung gezeitigt: sie weckte wieder den Sinn für die existentiellen Dimensionen der Politik.  

Wodurch die Nachfrage nach bevölkerungswissenschaftlicher Expertise gestiegen ist. Zugleich regten sich jedoch Zweifel an der Realitätstauglichkeit eines alten demographischen Narrativs, wonach Bevölkerungsschwund Verlust von wirtschaftlicher Potenz und Wohlstand bedeute. Dankbar haben deutsche und westeuropäische Eliten dieses vermeintliche „natürliche Gesetz“ stets zur Legitimation ihrer „Migrations“-Agenda verwendet. Es zählte daher auch zum agitatorischen Standardrepertoire, um die Flüchtlingskrise als „Chance“ zu verkaufen, da doch nur durch „Zuwanderung von Fachkräften“ Deutschlands Wohlstand und die Zukunft des Sozialstaats, seiner Renten- und Gesundheitssysteme, zu sichern sei. 

Bevölkerungspolitisches Totalversagen der Eliten

Dieses Narrativ wurde kürzlich durch den journalistischen Ruheständler Wolfgang Kaden, ehemaliger Chefredakteur des Spiegel und des Manager-Magazins, in Frage gestellt (Die Welt vom 21. März 2017). Allerdings bizarrerweise gänzlich entkoppelt von der Migrationskalamität. Unter Berufung auf die letzte Veröffentlichung des 2007 verstorbenen Frankfurter Soziologen Karl Otto Hondrich behauptet Kaden, ein Staat bleibe auch mit sinkenden Geburtenraten als Wirtschaftsmacht international konkurrenzfähig, verbrauche zudem weniger Ressourcen und schone die Umwelt. 

Seit der in den 1970ern propagierten „Small is beautiful“-Ideologie des deutsch-britischen Ökonomen Ernst Friedrich Schumacher (1911–1977), die sich heute in den Verheißungen von „Green Growth“ artikuliert, sind solche Thesen nicht neu. Auch der unter dem Druck der „Flüchtlingskrise“ in den Freitod gegangene Historiker Rolf Peter Sieferle (1949–2016) hat die „Rückkehr zu menschlichem Maß“ (Schumacher)  in seinem nachgelassenen Reflexionen über das „Das Migrationsproblem“ (JF 4/17 und JF 13/17) verfochten: „Ein künftiger demographischer Rückgang auf vielleicht 60 Millionen innerhalb von 100 Jahren wäre alles andere als ein Unglück, im Gegenteil, dies würde die Anpassung an stationär werdende ökonomische Bedingungen erleichtern. Allerdings müßten diese 60 Millionen bereit sein, ihr Land gegen den Immigrationsdruck aus Afrika und Asien zu verteidigen.“ 

Was einen tiefgreifenden Bewußtseinswandel voraussetze, weg vom suizidalen Bekenntnis zu „Deutsch sein heißt, an seiner Auflösung zu arbeiten“, hin zu einer Kultur der Selbstbehauptung. Deren Fundament wiederum ein perfektioniertes Bildungssystem sein müsse, um dann in der kleineren, ethnisch wie kulturell relativ homogenen Bevölkerung von 60 Millionen ein Maximum an Qualifizierten und Hochqualifizierten auszubilden. Der Weg in diese Richtung dürfte durch die Massenzuwanderung konstitutioneller Analphabeten nun vielleicht dauerhaft versperrt sein. 

Hatte Hondrich, Jahrgang 1937 und somit Angehöriger der „skeptischen Generation“ (Helmut Schelsky), immerhin noch ansatzweise so klar gesehen wie Sieferle, daß nämlich negative Bevölkerungspolitik, die Geburtenschwund passiv hinnimmt, auf Zuwanderung zwingend verzichten muß, fällt dieser Aspekt in Kadens Artikel unter den Tisch, so daß es das Geheimnis des Autors bleibt, was er mit seinem Aufguß des Hondrich-Appells „Weniger ist mehr“ eigentlich sagen will. Mehr als Nonsens jedenfalls nicht, denn seit nunmehr drei Jahrzehnten kann sich niemand ernsthaft an der demographischen Debatte hierzulande beteiligen, ohne zugleich das „Migrationsproblem“ zu behandeln. Worauf kein anderer beharrlicher gepocht hat als Herwig Birg – bis 2004 Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld –, der Altmeister der bundesdeutschen Bevölkerungswissenschaft, der erst 2014 eine zornige Abrechnung mit dem bevölkerungspolitischen Totalversagen des Establishments vorgelegt hat („Die alternde Republik und das Versagen der Politik“, JF 52/14-1/15).  

Generationenvertrag wurde von Kinderlosen gekündigt 

Sein jüngster Beitrag knüpft daran an und spitzt die Debatte auf die „Gretchenfrage der deutschen Demographiepolitik“ zu: „Erneuerung der Gesellschaft durch Geburten im Inland oder Zuwanderungen aus dem Ausland?“ (Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 3/2016). Allen Schrumpfungskonzepten erteilt Birg darin erneut eine unerbittliche Absage. Soll das politische und wirtschaftliche Gewicht Deutschlands und Europas im Prozeß der Globalisierung bewahrt werden, müssen die Geburtenzahlen wieder steigen. Aber ebensowenig wie 60 Millionen, insoweit stimmen Birg und Sieferle überein, sollten sich 80 Millionen Deutsche durch Ausländer ergänzen. 

Birg begründet seine Position jedoch nicht wie Sieferle historisch, kulturell und identitär, sondern, ähnlich wie Gunnar Heinsohn, strikt ökonomisch mit dem Generationenvertrag, der von den Kinderlosen gekündigt worden sei. Sollte das Bundesverfassungsgericht demnächst durch die Beseitigung der Privilegien kinderloser Menschen die Politik endlich zur längst überfälligen Reform des Rentensystems zwingen, werde die Geburtenrate mit großer Wahrscheinlichkeit wieder ansteigen, denn Deutschland habe „das Potential für eine der höchsten Geburtenraten Europas“. 

Gleichzeitig würden die Karlsruher Richter eine den Wohlstand langfristig sichernde Bevölkerungsentwicklung einleiten, für die geburtenfördernde Demographiepolitik als Instrument nationaler Zukunftsgestaltung unerläßlich sei. Zuwanderung löse dagegen Deutschlands demographische Probleme nicht, sondern generiere uferlose Verteilungskonflikte, da unter den hereinströmenden Massen für den Arbeitsmarkt eines Hochtechnologie-Landes unbrauchbare Transferempfänger dominierten. Sie würden daher die sozialen Sicherungssysteme nicht ent- sondern belasten. So lange, bis die Kraft der Wirtschaft erlahme und die Sozialsysteme kollabieren.