© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

Es drohen libanesische Verhältnisse
Aufstieg und Sturz des Ikarus: Der Politikwissenschaftler Michael Ley prophezeit die Spaltung Europas
Thorsten Hinz

Der Historiker Rolf Peter Sieferle verglich in seinem Abschiedstext „Finis Germania“ (JF 13/17) den heutigen Zeitdiagnostiker mit dem Ikarus, dem die Sonne die kunstvoll erschaffenen Flügel wegschmelzen ließ und der daraufhin ins Meer stürzt. Er habe zwei Möglichkeiten: „Er kann die Augen schließen und so lange schreien, bis die See ihn verschlingt.“ Oder er läßt die Augen offen und genießt den Anblick. Das Ergebnis sei gleich, doch der Weg ein völlig gegensätzlicher. Es gehe nicht mehr um Heilung, Entscheidung oder Wegweisung, sondern allein um die „harte und klare Beschreibung“ dessen, was sich vor unseren Augen vollzieht. Für Sieferle war das die irreversible Agonie der europäischen Zivilisation.

Mit dem Gleichnis vom stürzenden Knaben, der aus Begeisterung und Übermut der Sonne zu nahe kommt, leitete Giselher Wirsing seinen 1944 erschienenen Essay „Das Zeitalter des Ikaros“ ein. Die mythische Figur besitzt hier noch eine geschichtsmächtige Dimension. Sie ist das Sinnbild der neuen Zeit, des Luftzeitalters, in dem dank der modernen Technik jeder Punkt der Welt in kurzer Zeit erreicht werden kann. Der Geist und die technischen Zurüstungen der Globalisierung waren das Werk Europas. Nun stellte sich die Frage, ob es von ihr verschlungen würde.

Merkel öffnete die Tore für die Islamisierung

Häßliche Reminiszenzen an den Geist der Entstehungszeit waren unvermeidlich, doch es wäre ein Zeichen von Beschränktheit, den Gehalt des Essays darauf zu verengen. Anders als Oswald Spengler wollte Wirsing das Ende der europäischen Kultur nicht als unvermeidlich ansehen. Den Nationalsozialismus hatte er zunächst als schöpferische Kraft betrachtet, doch hier erwähnte er im Kapitel „Ein Abend am Escorial“ einen geistvollen spanischen Gesprächspartner, der ihm die Frage stellte, „ob wir Deutschen nun auch wirklich im vollen Umfang bereit seien, die Verpflichtung auf uns zu nehmen, die mit der Begründung eines über Nationen hinausgreifenden Reiches verbunden sei“.

Wirsing meinte, das alte Gleichgewichtssystem Europas sei in der globalisierten Welt zum Anachronismus und zum Element der Schwäche geraten. Das galt gleichermaßen für die Nationalismen und nationalen Hegemonialbestrebungen. Das niedergeschrieben im zehnten Jahr der NS-Herrschaft und im vierten Kriegsjahr war das Eingeständnis, daß der Nationalsozialismus die europäische Mission Deutschlands kompromittierte und verhinderte. Mehr Zeitkritik war wahrlich nicht möglich. 

Wirsing interpretierte den Zweiten Weltkrieg aus einer historischen Fernperspektive. Jeder große Krieg rühre „an die Untergründe seiner Epoche, dieser aber ist mehr. Die Substanz dessen, was wir werden, ist in die Waagschale geworfen. Vom Ausgang hängt es ab, wie die Menschen beschaffen sein werden, die künftig die Landschaften Europas bevölkern. (...) Wir Europäer stehen genau an der Stelle, wo ungeahnter Aufstieg steil nach oben führt, der Abgrund aber jäh und unerbittlich in die Tiefe zieht. Uns, des Ikaros Nachfahren und Jünger.“

1945 war alle Substanz aufgebraucht. Der Historiker Ludwig Dehio beschrieb die Lage Deutschlands und Europas so: „Es ist, als ob sich Duellanten wechselseitig durchbohrt hätten.“ Man kann mit Rolf Peter Sieferle den Krieg, seine Opfer, Verbrechen und Zerstörungen aber auch unter die „ungeheuren Verschwendungen“ an Menschen, Ressourcen, Ideen und kulturellen Beständen subsumieren, die das 20. Jahrhundert charakterisieren. Sie geht, während wir „von Verantwortlichkeit und Betroffenheit schwatzen“, unvermindert weiter.

Dieser Tage ist ein Essay des österreichischen Politikwissenschaftlers Michael Ley erschienen, der einen doppelten Titel trägt: „Die letzten Europäer. Das neue Europa“. Auf der Titelseite ist „Der Schrei“ von Edvard Munch abgebildet. Vieles darin ist schon aus Leys voriger Publikation „Der Selbstmord des Abendlandes. Die Islamisierung Europas“ bekannt (JF 46/15). Für Ley steht fest, daß das alte, wankende Europa von Merkel den Todesstoß erhalten hat: „Als mächtigste Politikerin Europas öffnete sie alle Tore für die Islamisierung des Kontinents und gefährdet dadurch den Bestand der europäischen Zivilisation.“

Libanesische Verhältnisse würden sich etablieren und das aktuelle Staatsversagen in Staatszerfall und Dezivilisierung übergehen. Ley stützt sich auf Äußerungen des ehemaligen CIA-Chefs Michael Hayden, der für das Jahr 2020 die von muslimischen Migranten verursachte Unregierbarkeit zahlreicher europäischer Regionen vorhersagte. In Deutschland betrifft das Duisburg, Dortmund, das Rhein-Main-Gebiet, Stadtteile von Berlin, Ulm, Stuttgart, Hamburg.

Die EU als die „letzte europäische Utopie“ sei zum Alptraum geworden und verbinde sich neben Zentralisierung, Dirigismus, Sowjetisierung mit einem gewaltsamen Sozialexperiment, der Schaffung des „Neuen Menschen“ durch massenhafte Neuansiedlungen aus fremden Kulturräumen. Die EU-Eliten betätigten sich als Kollaborateure. Vom demoralisierten, seelisch beschädigten, zivilreligiös sedierten Deutschland sei nichts zu erwarten. „Die Willkommenskultur des Jahres 2015 war nichts anderes als eine vorauseilende Dhimmitude gegenüber den hereinströmenden islamischen Invasoren.“

Hoffnungen richten sich auf Osteuropa

Doch bleibt Ley bei der Lagebeschreibung nicht stehen, sondern prognostiziert: „Europa wird in Zukunft wieder ein gespaltener Kontinent sein: Die Trennungslinie wird zwischen den islamisch beherrschten und den säkular-demokratischen Nationen bestehen.“ Das neue Kerneuropa umfasse die Visegrád-Staaten, also Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und damit Länder, die hinter dem „Eisernen Vorhang“ vom Einfluß des Postmodernismus unberührt geblieben sind und sich aktuell dem Einsickern des Islam verweigern. In k.u.k. Tradition sieht Ley Österreich mit im Boot, während er Deutschland abschreibt. Möglich sei immerhin, daß sich Landesteile – etwa Bayern und Sachsen – vom islamisierten und kollabierenden Gesamtstaat abspalteten. Auch die baltischen Staaten und Norditalien könnten hinzutreten. 

Das Konzept wirft zahlreiche Fragen auf, vor allem die nach dem Verhältnis zu Rußland, ohne das dieses Gebilde über keine territoriale Tiefe verfügt. Die aber wäre wichtig, zumal Ley sich eine Reconquista, die Wiedereroberung eines mehr und mehr heruntergewirtschafteten Westeuropa erhofft.

Vor exakt hundert Jahren richteten sich schon einmal westliche Hoffnungen auf den Osten. Ex oriente lux!, hieß es nach der Oktoberrevolution. Der russische Stier müsse das alte Europa verjüngen, „bespringen“, dichtete ein längst vergessener kommunistischer Barde. Das Experiment endete in einer historischen Katastrophe, die westeuropäischen Kritikern heute Gelegenheit gibt, den Osteuropäern anhaltende mentale Beschädigungen und Rückständigkeiten vorzuwerfen und so ihre auf Selbstschutz ausgerichtete Migrationspolitik zu diffamieren. Dem kann man entgegenhalten, daß es westliche Ideen waren, die Lenin aufgegriffen und praktiziert hatte, und der Osten heute keine Lust hat, noch einmal fremde Zechen zu bezahlen. Chruschtschow äußerte mehrmals gegenüber deutschen Politikern, die sich über die Teilung beklagten, daß es doch die Deutschen waren, die den marxistischen Brei angerührt hätten! Das östliche Mißtrauen gegen die westliche Ideologie des Multikulturalismus ist also praktisch wie historisch gut begründet.

Zumindest könnte Osteuropa sich in künftigen Stürmen als willkommenes Rückzugsgebiet für Westeuropäer erweisen. Deshalb ist es auch in ihrem Interesse, wenn Warschau, Budapest oder Prag sich einer „gerechten Verteilung von Flüchtlingen“ – konkret: der Implementierung des Islam – verweigern. Auf diesem Gebiet gibt es außer der Technik der Selbstzerstörung wirklich nichts, was der Osten vom Westen lernen könnte.

Europa geht im Westen unter. Ob es im Osten als Ikaros wieder aufsteigt, ist offen. Aber wenn überhaupt, wo denn sonst?

Michael Ley: Die letzten Europäer – Das neue Europa. Hintergrund-Verlag, Osnabrück 2017, kartoniert, 110 Seiten, 10 Euro