© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

„Das wird man doch noch fragen dürfen“
Fachkräftediskussion: München wirbt mit ökonomischen Scheinargumenten für weitere Massenzuwanderung
Michael Paulwitz

Die Fragen klingen mutig: „Werden wir von Flüchtlingen überrollt?“ – „Plündern Migranten unsere Sozialkassen?“ – „Nehmen Ausländer und Flüchtlinge uns die Arbeit weg?“ Das alles „wird man doch noch fragen dürfen“ – oder? Darf man, nur ehrliche Antworten sollte man besser nicht erwarten. Jedenfalls nicht von dem sich beim Starkbieranstich auf dem Nockherberg volkstümlich gebenden SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter.

Jährlich bis zu 500.000 Zuwanderer notwendig?

Die ihm direkt unterstellte „Fachstelle für Demokratie“ hat eine Reihe von Flugblättern herausgegeben, die die bangen Fragen besorgter Steuerzahler zerstreuen sollen. Daß Reiters Fachstelle keine Behörde, sondern eine Agitpropzentrale ist, ergibt sich aus ihrer Selbstbezeichnung – „gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit“. Die Flugblattreihe hat gleichwohl nicht den grün-linken Überzeugungstäter im Blick, sondern den skeptischen Otto Normalverbraucher, der sich angesichts der Millionenzuwanderung fragt, ob SPD-Wählen dabei eine gute Idee ist.

Die Flugblätter, die auf den ersten Blick plausibel argumentierend daherkommen, entpuppen sich bei näherem Hinschauen als perfide Mischung aus Scheinlogik, Weglassen, Verdrehen, Verzerren und „Fake News“. Deutschland nehme nicht so viele Flüchtlinge auf wie die Türkei, Jordanien oder der Libanon – daß die dort nur auf Zeit und von der Vollversorgung durch den deutschen Sozialstaat denkbar weit entfernt sind, wird elegant beiseite gelassen.

Die „größte Einwanderergruppe“ seien die 4,5 Millionen deutschen „Volkszugehörigen“ aus Osteuropa und der Ex-Sowjetunion – die sich allerdings in Bildungsstand, Sozialhilfequote und Arbeitsmarkterfolg kaum vom Durchschnitt unterscheiden. Wohlweislich wird nicht erwähnt, daß etwa die Mehrheit der koreanischen und etwa die Hälfte der vietnamesischen Jugendlichen Abitur macht – und damit häufiger als die Deutschen. Aber dann müßte zugegeben werden, daß die türkische Gymnasialquote nur ein Fünftel davon beträgt.

Lediglich 1,56 Prozent der neu Asyl beantragenden Flüchtlinge kämen dauerhaft in die Landeshauptstadt. 2015 habe München Unterkünfte für 15.000 Flüchtlinge bereitstellen müssen, das seien „weniger als ein Prozent der Bevölkerung“. Zur Relativierung gibt es einen Vergleich: „In der Allianz Arena jubeln regelmäßig bis zu 75.000 Zuschauer bei den Spielen des FC Bayern – also rund sechsmal so viele.“ Die zahlen allerdings ihre Eintrittskarten selbst, geben ihr eigenes Geld in der Landeshauptstadt aus und fahren, wenn sie von auswärts kommen, wieder nach Hause – und müssen nicht dauerhaft alimentiert werden.

Zudem wird behauptet, daß zur Stabilisierung der Sozialsysteme „jährlich bis zu 500.000 Zuwanderer aus dem Nicht-EU-Ausland“ notwendig seien. Ob damit auch unkontrolliert eingereiste Analphabeten aus Afrika oder dem Mittleren Osten gemeint sind, wird nicht näher erläutert. Das Arbeitskräfteargument – hier unter Berufung auf Bertelsmann-Experten – zieht sich durch die gesamte Reiter-Kampagne.

Wenn es paßt, werden zitierte Quellen dafür schon mal ins Gegenteil verkehrt. Nach Ansicht von Ökonomen wie Hans-Werner Sinn brauche man „viele Zuwanderer zur Sicherung zukünftiger Renten im gesetzlichen Rentensystem“, heißt es in dem Flugblatt, das die Plünderung der Sozialkassen durch Migranten widerlegen soll. Schlägt man den zitierten FAZ-Artikel nach, schreibt der frühere Ifo-Präsident dort allerdings, daß dafür 32 Millionen Einwanderer notwendig seien – und das könne „man sich gar nicht vorstellen“. Die Flugblätter behaupten unverdrossen, die alternde deutsche Gesellschaft brauche „neue Beitragszahler“. Und: „Der Zuzug von Migranten ist hier wichtig. Die Schieflage der Sozialkassen ist somit kein ‘Ausländerproblem’. Im Gegenteil: Migranten sind Teil der Lösung des Problems!“ Als Beleg muß eine weitere Bertelsmann-Studie (JF 50/14) herhalten: „Jeder Ausländer zahlt pro Jahr durchschnittlich 3.300 Euro mehr an Steuern und Sozialabgaben, als er an staatlichen Leistungen erhält.“

Buchstäblich ein Gewinn für die Krankenversicherung?

An dieser Stelle zitieren die Flugblattmacher den Ökonomen Sinn lieber nicht: Der hat nämlich, ebenfalls in der FAZ, aufgezeigt, daß das „Fake News“ sind. Auch die Bertelsmann-Studie komme letztlich zu einem negativen Ergebnis mit einem „impliziten Finanzierungsdefizit“ in Höhe von 79.100 Euro je Migrant über die gesamte Zeit. Deutschlands Sozialstaat wirke wie ein Magnet auf Unqualifizierte: „So wie die Migration derzeit läuft, läuft sie falsch.“ Und das war noch vor Merkels Grenzöffnung.

Ausländer sind „jünger als die deutsche Bevölkerung“ und „gehen seltener zum Arzt“ – um das zu begründen, muß sogar eine mehr als zehn Jahre alte Erhebung herhalten. Wer die Beiträge zahlt – der Arbeitnehmer oder der Steuerzahler –, ist damit nicht gesagt. Bei Asylzuwanderern seien die Beiträge nicht kostendeckend, klagen inzwischen die gesetzlichen Kassen. Für die Deckungslücken durch Merkels Million hat der Bundesgesundheitsminister bereits die Rücklagen des Gesundheitsfonds geplündert. Die auf Januar 2015 datierte Aussage, die „zugewanderten Neumitglieder“ seien „buchstäblich ein Gewinn für die gesetzliche Krankenversicherung“, dürfte dem zitierten Kassenfunktionär jetzt nicht mehr so leichtfallen. Die höhere Arbeitslosigkeit wird nicht geleugnet, aber entschuldigt: Ausländer arbeiteten „wegen fehlender oder nicht anerkannter Bildungsabschlüsse oder wegen mangelnder Sprachkenntnisse sowie aufgrund institutioneller Hindernisse häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen“. Der naheliegende Schluß, daß diese vermeintlichen Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt nicht benötigt werden oder mit unqualifizierten Einheimischen konkurrieren, wird nicht gezogen.

„Diskriminierung“ und eine „falsche Einwanderungspolitik“, die für Gastarbeiter eine „Aus- oder Weiterbildung“ „nicht vorgesehen“ habe, sind schwache Argumente: Deren dauerhaft hier lebenden Kindern und Enkeln stand das Bildungssystem genauso offen wie anderen Einwanderern, die sich erfolgreicher zeigten. Um das zu verwischen, werden italienische Edelgastronomen und kroatische Handwerker mit Ein-Mann-Dönerbuden und mobilen Hartz-IV-„Selbständigen“ in einen Topf geworfen, um hervorzuheben, daß in München „im Juni 2015 27,4 Prozent aller angezeigten Gewerbe durch ausländische Unternehmer/-innen angemeldet“ gewesen seien.

Doch so ganz wird dem rosaroten Bild auf gelbem Papier nicht vertraut. Daher wird in Großdruck dekretiert: „Keine Spaltung der Münchner/innen in ‘Inländer’ und ‘Ausländer’.“ Doch genau das befördert diese Kampagne, weil sie den ostasiatischen Akademiker, den türkischen BMW-Arbeiter, den nordafrikanischen Intensivtäter und „Großfamilien“ vom Balkan zu einem scharfen Reiterschen Ausländereintopf verrührt.

Flugblätter der Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) unterstellten Fachstelle für Demokratie: muenchen.de