© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/17 / 07. April 2017

Afrika sitzt auf gepackten Koffern
Die profilierten Afrikanologen Asfa-Wossen Asserate und Achille Mbembe laborieren an wirksamen Konzepten für den schwarzen Kontinent
Siegfried Gerlich

In der stetig anwachsenden Literatur zum permanenten Krisenkontinent Afrika zeichnen sich Publikationen von Autoren afrikanischer Herkunft in der Regel sowohl durch eine betont afrozentrische Sichtweise als auch durch eine intimere Kenntnis ihres Gegenstandes aus. Eine entsprechende Aufmerksamkeit verdienen zumal die neuen Bücher von Asfa-Wossen Asserate und Achille Mbembe, die im übrigen unterschiedlicher kaum sein könnten. 

Der in Kamerun geborene politische Philosoph Mbembe hat sich als linker Programmatiker der „Postcolonial Studies“ einen Namen gemacht, wohingegen der aus Äthiopien stammende Unternehmensberater Asserate auch als politischer Ratgeber ein liberaler Pragmatiker geblieben ist. Und obwohl dieser Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie Asserate, der nach der sozialistischen Revolution als erster äthiopischer Flüchtling nach Deutschland auswanderte, Angela Merkels migrationspolitischen Sonderweg unter humanitären Gesichtspunkten vorbehaltlos lobt, erscheint ihm der eben erst beginnende afrikanische Massenexodus als eine einzige Katastrophe, ist es doch „Afrikas Zukunft, die den Kontinent verläßt“. Eindringlich appelliert Asse-rate an die Europäer, nicht immerzu nur auf Syrien zu starren, sondern schon im eigenen Interesse Afrika ein besonderes Augenmerk zu schenken: Immerhin sind derzeit bereits viereinhalb Millionen mehrheitlich minderjährige Afrikaner auf der Flucht.

Doch weit davon entfernt, sich hinsichtlich der Fluchtgründe auf das berüchtigte „koloniale Erbe“ Afrikas herauszureden, erörtert Asserate vornehmlich endogene Strukturprobleme wie die „tribalistische Zersplitterung“ des Kontinents, welche weder in seiner präkolonialen Geschichte ein gesamtafrikanisches Bewußtsein entstehen ließ, noch in der postkolonialen Gegenwart einer nationalen Staatenbildung nach europäischem Vorbild förderlich war. Und gerade in dem archaischen Nepotismus afrikanischer Machthaber sowie der allgegenwärtigen Korruption ihrer Verwaltungseliten, denen der Autor die Hauptschuld an dem fortschreitenden Zerfall ihrer Staaten gibt, schlägt dieser überkommene Tribalismus mächtig wieder durch. 

Völlig verfehlte europäische Entwicklungshilfepolitik

Ließ sich der ersten postkolonialen Generation afrikanischer Staatschefs noch zum Vorwurf machen, daß sich diese vor allem als Marionetten der alten Kolonialmächte bewährten, so richtete die zweite Generation putschender Generäle ihre Länder aus eigener Kraft vollends zugrunde. Trotz horrender Summen an Entwicklungshilfe stehen die meisten afrikanischen Staaten in Belangen wie Infrastruktur, sozialem Frieden, Rechtssicherheit, Bildungs- und Gesundheitswesen noch schlechter da als zu Beginn ihrer Unabhängigkeit – und diese chronische Instabilität wissen ausländische Wirtschaftsmächte als Einfallstor zur skrupellosen Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen. 

Zu den größten Übeln zählt Asserate das „Landgrabbing“ von seiten privater wie staatlicher Auslandsinvestoren und Agrarunternehmen, mit denen afrikanische Potentaten und Warlords willfährig zusammenarbeiten. Vor diesem Hintergrund kritisiert Asserate freilich auch die im Widerspruch zur liberalen Freihandelsdoktrin hochsubventionierte europäische Agrarindustrie, welche afrikanische Entwicklungsländer mit Billigprodukten flutet und deren Landwirtschaften veröden läßt. Nicht zuletzt gilt seine Kritik einer verfehlten europäischen Entwicklungshilfe, deren alljährliche Zahlungen von fünfzig Milliarden Euro auf den Wegen von Geldwäsche und Steuerflucht zum größten Teil auf Auslandskonten abfließen.   

Mit Nachdruck ruft Asserate die Europäische Union dazu auf, die Alimentierung korrupter Regime endlich zu beenden und stattdessen zur Konsolidierung der afrikanischen Agrarwirtschaften beizutragen. Allerdings hat der ansonsten nüchterne Autor mit seiner optimistischen Prognose, das erhoffte Wirtschaftswachstum werde auch zum Nachlassen der afrikanischen Migrationsbereitschaft führen, die gesamte Migrationsforschung gegen sich, die ganz im Gegenteil damit rechnet, daß eine Verbesserung ihrer Einkommensverhältnisse vielen Millionen Afrikanern erst jene Auswanderung ermöglichen wird, von der sie bislang nur träumen konnten. 

Insofern stellt Asserates Prophezeihung, Europa selbst werde untergehen, sollte ihm die Rettung Afrikas mißlingen, dem Leser beinahe drohend eine Kausalität des Scheiterns vor Augen, welche sich bei realistischer Betrachtung wohl nur durch die Auftrennung dieses kausalen Nexus abwenden ließe.Wenn selbst eine sinnvoll reformierte Wirtschaftshilfe für das leidgeprüfte Afrika mitnichten die Fluchtursachen beseitigen kann, dann muß Europa wenigstens die Fluchtauswirkungen auf den eigenen Kontinent begrenzen, indem es eben Grenzen setzt und diese auch sichert.

Begreift Asserate diese „neue Völkerwanderung“ jedenfalls als eine euro-afrikanische Tragödie, so deutet demgegenüber Achille Mbembe die unter Afrikanern einstweilen notorisch gewordene „Ablehnung der Seßhaftigkeit“ in die nomadische Utopie selbstgewählter Ortlosigkeit um. Da sich der afrikanische Kontinent längst in einen „Ort des Übergangs und der Durchreise, sich auflösend in Nomadentum, Transit und Irrfahrten“ verwandelt habe, bewirbt der spekulativ ausschweifende Philosoph sein postmodernes Afrika der Zukunft um so begeisterter als einen „multinationalen Raum von Netzwerken“, in dem das „Imaginäre der Ströme“ alle Verwurzelung in einem „Boden“ hinwegspülen werde. Schließlich sei die „Dekolonisation“ Afrikas auch dadurch aufgehalten worden, daß das bodenständige und grenzbewußte Europa keinerlei „Autodekolonisation“ vollzogen habe; das universalistische Versprechen des „weißen Europa“ könne aber allein durch dessen „Dezentrierung“ und „Provinzialisierung“ eingelöst werden. 

Südafrika als Labor einer „afropolitanischen“ Utopie 

Damit gibt sich Mbembe weiterhin als Wortführer jener Schule des Postkolonialismus zu erkennen, die sich „Critical Whiteness“ (JF 10/17) nennt und schon durch diese Selbstbezeichnung klarstellt, daß der Rassismus hier nur die Seiten gewechselt hat. Nachdem er in seinem zu Unrecht vielgerühmten Pamphlet „Kritik der schwarzen Vernunft“ noch mit einem rassischen Schwarz-Weiß-Denken aufwartete, welches Täter wie Opfer kategorisch nach Hautfarben selektierte, ist es immerhin erfreulich, daß er inzwischen nicht mehr die gesamte Misere der „schwarzen“ Welt als Spätfolge des „weißen“ Kolonialrassismus ausgibt, sondern auch selbstverschuldete Mißstände einräumt, die den „Ausgang aus einer langen Nacht“ bislang versperrt hätten. 

Doch obschon Mbembe im zeitgenössischen Afrika „ein Maß an Niedertracht, Verachtung und Erniedrigung“ wahrnimmt, das „noch schlimmer ist als in der Kolonialzeit“, verklärt er die in dessen „dionysischem Süden“ besonders exzessiv und autoaggressiv wütende Gewaltkultur unerschrocken zu einer mystisch-erotischen „Selbstverausgabung“ im Sinne Georges Batailles. Und wiewohl er angesichts des faktischen Scheiterns der Emanzipation Afrikas auch die drei großen Emanzipationskonzepte des „antikolonialen Nationalismus“, des „afrikanischen Sozialismus“ und des „Panafrikanismus“ als obsolet verabschiedet, vermag er seine eigene visionäre Konzeption eines „Afropolitanismus“ mit frei flottierenden Metaphern und allerlei phantastischen Neologismen lediglich schwärmerisch zu beschwören, nicht aber gedanklich klar zu fassen. 

Daß Mbembe ausgerechnet Südafrika als „Laboratorium“ seiner „afropolitanischen“ Utopie anpreist, dürfte den kundigen Leser allemal skeptisch stimmen. Ihn für sich einzunehmen gelingt dem Autor indessen ohne weiteres, sobald er rhetorisch abrüstet und ungeschützt den politisch-psychologischen Traumata der Afrikaner nachspürt, um sich auf die Suche nach ihrer verlorenen Identität zu begeben. Nicht zuletzt die sein Buch einleitenden persönlichen Kindheitserinnerungen an die chaotische Aufbruchszeit seines zentralafrikanischen Landes lassen erahnen, daß an dem verstiegenen postkolonialen Ideologen ein schwarzer Poet verlorengegangen ist.

Asfa-Wossen Asserate: Die neue Völkerwanderung. Wer Europa bewahren will, muß Afrika retten. Propyläen Verlag, Berlin 2016, gebunden, 224 Seiten, 20 Euro

Achille Mbembe: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonialisiertes Afrika. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, broschiert, 300 Seiten, 28 Euro