© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/17 / 07. April 2017

Der Angriff dauerte nur eine Minute
Wenn Sitzplätze über Leben und Tod entscheiden: Vor 25 Jahren ermordeten ausländische Jugendliche den Familienvater Gerhard Kaindl
Carsten Pagel

Mit einer nach eigener Aussage „ungewöhnlichen Vorrede“ leitet die Vorsitzende Richterin Gabriele Eschenhagen der 7. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin ihre Urteilsbegründung ein: Die „Antifaschisten“ würden unter liberalen Bürgern viel Sympathie genießen. Der Angriff der Angeklagten habe vor dem Hintergrund ausländerfeindlicher Gewalt stattgefunden. Die Tötung Gerhard Kaindls sei auf den Exzeß eines weiteren – nicht angeklagten – Täters zurückzuführen. Bei den Angeklagten könne man von einem minderschweren Fall der Körperverletzung mit Todesfolge ausgehen. Und an die Sympathisanten der Tatbeteiligten gerichtet sagt die Richterin: „Eine Welle der Entrüstung würde über uns hereinbrechen, wenn wir im umgekehrten Fall dieses Urteil gegen Rechte gefällt hätten.“ 

Das Urteil im Mordfall Kaindl fällt tatsächlich sehr milde aus. Drei Angeklagte werden wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu je drei Jahren Haft verurteilt. Gegen zwei andere werden Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt, und zwei weitere Angeklagte werden freigesprochen.

Die maskierten Angreifer stürmen das Lokal

Rückblende: Es ist Freitag, der 3. April 1992. Der Abend beginnt unspektakulär in einer Gaststätte im Berliner Stadtbezirk Neukölln, in der eine Veranstaltung des Hoffmann-von-Fallersleben-Bildungswerks stattfindet. Thema ist ein Vortrag des Österreichers Konrad Windisch über den Dichter Ludwig Uhland.

Nach dem Ende der Veranstaltung verabreden wir uns, noch etwas essen zu gehen. „Wir“, das sind an diesem Abend neben mir der heutige JF-Redakteur Thorsten Thaler, 1989/1990 Geschäftsführer und Pressesprecher der Abgeordnetenhaus-Fraktion der Republikaner, Gerhard Kaindl, früher im Landesvorstand der Berliner Republikaner, dann aktiv bei der Deutschen Liga (eine Abspaltung der Republikaner) und Gabriele H., Vorstandsmitglied der Deutschen Liga. Hinzu kommen der Kieler Verleger Dietmar Munier sowie ein Mitarbeiter seines Verlages. Kurze Zeit später sitzen wir an einem Tisch im hinteren Bereich des China-Restaurants „Jin-Shan“ am Kottbusser Damm in Kreuzberg.

Im Verlaufe des Abends bietet uns ein Rosenverkäufer seine Ware an, wir haben jedoch keinen Bedarf. Diese Situation bemerkt ein ausländischer Gast, der dem Rosenverkäufer sagt: „Die kaufen sowieso nichts, das sind Republikaner.“ Die Atmosphäre war aber völlig entspannt, niemand von uns hat dieser Bemerkung Bedeutung beigemessen.

Das wäre sicherlich anders gewesen, wenn wir auch nur geahnt hätten, was sich nun vor der Tür zusammenbraute. Der ausländische Gast verließ das Lokal und informierte eine Gruppe namens „Antifasist Gençlik“ (Antifaschistische Jugend) darüber, daß sich „im Kiez Nazis“ aufhalten würden. Diese hätten einen ausländischen Blumenverkäufer beleidigt. In kürzester Zeit werden etwa zehn bis zwölf Personen mobilisiert, überwiegend Türken und Kurden, aber auch einzelne Deutsche. Sie treffen sich in der Nähe des China-Restaurants, sind bewaffnet mit Messer, Baseballschläger und einem selbst angefertigten Degen mit einer 52 Zentimeter langen Klinge. Die Gruppe wartet nun darauf, daß wir das Lokal verlassen. Gegen 0.30 Uhr am 4. April 1992 verlieren die „Antifasist Gençlik“ die Geduld. Etwa acht bis zehn Personen ziehen sich Masken über die Köpfe und stürmen das Lokal. Ein weiterer Täter sichert die Tür.

Keiner von uns hat auch nur im entferntesten mit einem solchen Angriff gerechnet. Es dauert nur wenige Sekunden, bis die Angreifer unseren Tisch erreichen. Ohne zu zögern, sticht einer der Täter sofort zu. Er trifft den mit dem Rücken zur Tür sitzenden Gerhard

Kaindl mit mehreren Messerstichen. Vermutlich ein anderer Täter sticht auf den daneben sitzenden Thorsten Thaler ein. Ich lasse mich instinktiv unter den Tisch fallen, andere aus unserer Gruppe bringen den Tisch zwischen sich und die Angreifer. Der Angriff, der nur etwa eine Minute gedauert hat, wird vom chinesischen Wirt des Lokals beendet, der eine Gaspistole zieht. Die Täter flüchten. In dem zerstörten Lokal lassen sie Gerhard Kaindl (47) zurück, der noch am Tatort verstirbt. Thorsten Thaler (damals 28) kann durch eine sofortige Operation gerettet werden. Gerhard Kaindl, diplomierter Elektroingenieur, Inhaber einer eigenen kleinen Firma, hinterläßt seine Frau und einen Sohn. 

Der polizeiliche Staatsschutz nimmt noch in derselben Nacht die Ermittlungen auf. Sie führen relativ schnell in das Umfeld der Täter. Es fehlt jedoch zunächst an verwertbaren Beweisen. Die Mordkommission durchforstet intensiv die Kreuzberger Szene, sucht einschlägig bekannte Lokale auf und befragt mögliche Zeugen. Erst im November 1993 gelingt der Durchbruch: Zwei Tatbeteiligte machen umfangreiche Angaben über den Tatverlauf und ihre Mittäter. Vier Tatverdächtige werden festgenommen, sechs weitere mit internationalem Haftbefehl gesucht.

Am 20. September 1994 beginnt vor der 7. Strafkammer des Berliner Landgerichts ein Prozeß gegen sieben Anhänger der „Antifasist Gençlik“. Die Anklage lautet auf gemeinschaftlichen Mord beziehungsweise Mordversuch. Von Anfang an wird der Prozeß begleitet von zahlreichen Solidaritätsbekundungen mit den Angeklagten. Besonders engagiert sich die PDS, die eine Pressekonferenz veranstaltet und einer Unterstützergruppe der Angeklagten Räumlichkeiten zur Verfügung stellt. Aber auch die „liberale Öffentlichkeit“ stellt sich auf die Seite der Angeklagten, denen lediglich vorzuwerfen sei, daß sie mit ihrer Aktion ein wenig über das Ziel hinausgeschossen seien. 

Es kann nicht überraschen, daß die Angeklagten in ihrer Verteidigung vor dem Landgericht dieser Linie folgen. Die Tötung Kaindls hätten sie nicht beabsichtigt. Sie hätten sich vor dem Hintergrund ausländerfeindlicher Pogrome verteidigen müssen. Die belastenden Aussagen zweier türkischer Tatbeteiligter seien diesen von der Polizei in den Mund gelegt worden. Einer der Hauptbelastungszeugen, der Mitangeklagte Erkan S., leide unter Schizophrenie, seine Angaben könnten daher nicht verwertet werden. Der Prozeß wird zu einem Zirkus. Sympathisanten der Angeklagten verhindern mit Sprechchören und dem Einsatz von Buttersäure eine Zeugenvernehmung von Thorsten Thaler. 

Die Mord-Anklage wird herabgestuft

Schließlich kommt es zu einer Verständigung zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Die Anklage wird auf Körperverletzung mit Todesfolge herabgestuft. Am 16. November 1994 verkündet Richterin Eschenhagen die Urteile: Drei Angeklagte werden zu je drei Jahren Haft verurteilt. Gegen Bazdin E. und Fatma B. werden Jugendstrafen von zwei Jahren beziehungsweise einem Jahr und drei Monaten verhängt, die zur Bewährung ausgesetzt werden. Zwei weitere Angeklagte werden freigesprochen. Darunter ist auch Erkan S., dem das Gericht Schuldunfähigkeit attestiert. Eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung hielt das Gericht aber nicht für erforderlich, da von ihm „keine Gefahr“ ausginge. Die Urteile werden rechtskräftig.

Wer damals auf Kaindl eingestochen hat, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Vermutlich kommt hierfür Cengiz U. in Betracht, der nach der Tat untertauchte und 1996 angeblich bei einem Gefecht mit der türkischen Armee in der Osttürkei erschossen wurde.

1997 erscheint unter dem Titel „Friß und stirb trotzdem“ ein Roman, mit dem die Ereignisse um die Ermordung von Gerhard Kaindl „literarisch“ aufgearbeitet werden. Der Autor, Raul Zelik, lebt seit 1989 in Berlin und verkehrt selbst in der linksradikalen Szene. Zelik schildert die Tat aus der Sicht der Täter. Das Buch ist voller schwer zu ertragender Gewaltdarstellungen. Leseprobe: „Ich fühle es, das Messer in der Hand, das Messer im Fleisch, das Fleisch tief, warm und zuckend.“

Zelik qualifiziert sich mit diesem „Werk“ offenbar für den Literatur- und Kunstbetrieb. Sein Buch wird im Jahr 2000 als Theaterstück in Halle inszeniert. Zwei Jahre später nimmt Zelik eine Hörspielbearbeitung für den WDR vor. Im Mai 2007 – anläßlich der fünfzehnten Wiederkehr des Mordes – wird das Hörspiel trotz zahlreicher Proteste – auch von Lesern dieser Zeitung – im NDR ausgestrahlt. 

Natürlich bewegt die Opfer von damals und ihre Angehörigen auch heute noch die Frage, wie es zu einer solchen Tat kommen konnte. Eine Antwort findet sich möglicherweise in den im Internet abrufbaren Publikationen von und über „Antifasist Gençlik“, die sich im Jahr 1994 aufgelöst hat. Die Texte spiegeln die Zerrissenheit der Gruppe wieder, deren ausländische Mitglieder sich weder in Deutschland noch in der Türkei heimisch fühlen. Ansonsten findet sich ein Sammelsurium ideologischer Phrasen und linksrevolutionärer Phantasien, vermischt mit Selbstmitleid, Wut, Haß und Größenwahn.

Daß es bei dem Attentat Anfang April 1992 Gerhard Kaindl traf, war Zufall. Er wurde deshalb getötet, weil er den in das Lokal stürmenden Tätern am nächsten saß. Es hätte auch jeden anderen aus unserer Gruppe treffen können. Letztlich entschied in dieser Nacht die Sitzordnung über Leben und Tod.






Carsten Pagel, Jahrgang 1962, trat als Schüler in die Junge Union und die CDU ein, wechselte 1987 zur Partei „Die Republikaner“, für die er 1989/90 im Abgeordnetenhaus von Berlin saß. Seit 1991 ist er als Rechtsanwalt in Berlin tätig.