© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/17 / 07. April 2017

Das Eigene, das Fremde
Staatsvolk und Einwanderer: Warum sich der Nationalstaat weiterentwickeln muß
Thorsten Hinz

Das mediale Echo auf das Treffen europäischer Rechtsparteien im Januar 2017 in Koblenz war so einhellig wie einfallslos. Sämtliche Zeitungen und Sender betonten sein gefährliches Potential und bemühten sich gleichzeitig, Hohn und Heiterkeit über diese „Internationale der Nationalisten“ zu verbreiten. Der „Nationalist“, das weiß die Bundeszentrale für politische Bildung, glorifiziert die eigene Nation und setzt die anderen herab. Er hängt einem verstaubten 19. Jahrhundert an und hat das mörderische 20. Jahrhundert nicht verstanden. Eine derart zusammengesetzte Internationale kann nur ein Widerspruch in sich sein, denn ihre Teilnehmer stehen unter dem angeborenen Zwang, sich gegenseitig die Pest an den Hals zu wünschen.

Traditionen befinden sich auf dem Rückzug

Doch Frauke Petry ist nicht die Erbin von Heinrich Claas, dem alldeutschen Berserker aus der Kaiserzeit, und Marine Le Pen keine Urenkelin von Georges Boulanger, dem General „Revanche“ der Dritten Französischen Republik. Es gibt rationale Gründe, den Nationalstaat zu verteidigen, die stärker wiegen als historisches Halbwissen und romantische Träume von einer postnationalen Gegenwart.

Andererseits muß man die Veränderungen im Verhältnis zum staatlichen Gemeinwesen zur Kenntnis nehmen. Die Säkularisierung hat auch das ehrfürchtige Erschauern vor der Autorität des Staates beendet. Der moderne Mensch geht im Zuge der Individualisierung temporäre Bindungen ein, duldet aber – zumindest in seinem Selbstbild – keine kollektive Autorität über sich. Den Staat, sofern er als Machtinstanz tätig wird, sieht er als Repressionsorgan an. Hingegen nimmt er ihn als eine soziale Dienstleistungsagentur in Anspruch. Solange seine Bedürfnisse befriedigt werden, hat er keinen Anlaß, über die Voraussetzungen des Sozialstaats und die neuen Abhängigkeiten, in die er sich begibt, nachzudenken.

Die Unterhaltungskultur, die transnationalen Medien- und Kommunikationsangebote, die Tourismus- und Unterhaltungsindustrie haben zur totalen Übermacht der Gegenwart geführt. Traditionen, kulturelle und historische Reflexionen befinden sich auf dem Rückzug. Die internationale Konsum- und Massenkultur hält ein großes Angebot an Identifikationsmustern bereit und drängt zur permanenten Selbstoptimierung. Wer in diesem Koordinatensystem lebt, hält den nationalstaatlichen Bezug in der Tat für überholt und überflüssig. Die Versuche in Osteuropa, eine traditionelle Nationalkultur wiederzubeleben, erschöpfen sich in Rückgriffen auf bäuerliche Elemente, die mit der Gegenwart wenig zu tun haben. Es handelt sich um späte Kinderkrankheiten in postsowjetischer Zeit.

In den westlichen Ländern stößt die nationalstaatliche Selbstdefinition auf die zusätzliche Schwierigkeit, daß das homogene Staatsvolk, das sich als Interesseneinheit versteht, nicht mehr existiert. Damit entfällt die selbstverständliche Evidenz des Eigenen, das sich vom Anderen unterscheidet. Da sind zum einen die Anhänger des Globalismus beziehungsweise Internationalismus, die aus ökonomischem Interesse oder in ideologischer Absicht den Nationalstaat in einem postnationalen Gebilde aufgehen lassen möchten. Und da sind die eingewanderten Nationalitäten, Ethnien, Kulturen innerhalb der staatlichen Grenzen. Viele Einwanderer verhalten sich unauffällig und loyal, andere fordernd, lärmend, bedrohlich. Auf jeden Fall steht der Anhänger des Nationalstaats vor der Frage, auf welches Wir er sich beruft, wenn er nationale Interessen geltend macht.

Für die Globalisten ist die Schlußfolgerung klar. Für sie hat der Nationalstaat als Denk- und Handlungsmodell ausgedient und sind Internationalisierung und Multikulturalismus unhintergehbare Größen geworden. Eine Leitkultur beziehungsweise die Dominanz des indigenen Staatsvolks einzufordern, stellt für sie neben der praktischen Unmöglichkeit eine Diskriminierung und Provokation des Anderen dar. Das Eigene und das Fremde sind für sie gleichberechtigte Muster, die sich permanent übereinanderschieben, einander reiben, temporär verbinden, partiell zu Synthesen führen. Die politischen und rechtlichen Institutionen agieren als permanente Vermittlungsauschüsse und befinden sich ebenfalls in ständiger Verflüssigung und Anpassung. Wenn kein dominantes Staatsvolk mehr vorhanden ist, muß es auch keine Grenzen mehr ziehen, so daß diese ebenfalls obsolet werden.

Brüssel zieht immer mehr Macht an sich

Das ist selbstmörderisch und auch unlogisch: Vorausgesetzt werden hier die Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstzurücknahme und -relativierung. Das heißt, auch das permanente Chaos, das beschrieben wird, bezieht sich auf einen akzeptierten Konsens und Ordnungsrahmen, die europäisch-säkularen Standards gehorchen. Nur sind aber die Kulturen, die eingewandert sind, keineswegs alle europäisch-säkular gesinnt, und immer mehr der Migranten lassen den Europäern eine klare Feinderklärung zukommen.

Schon unter Europäern ist es schwierig genug, Interessengegensätze auszugleichen. Das gelingt vor allem deshalb leidlich, weil leistungsfähige Nationalstaaten bereit sind, weniger geordnete Staaten mitzufinanzieren. Die Rolle der transnationalen EU besteht – siehe die Euro-Rettung – darin, hinter der Nebelwand einer verschwiemelten Europa-Ideologie die Vergemeinschaftung des Schlendrians zu betreiben. Der Nutznießer ist Brüssel, das dabei immer mehr unkontrollierte Macht an sich zieht. Auch die Konflikte mit außereuropäischen Kulturen nimmt Brüssel zum Anlaß für autoritäre Verordnungen und Anweisungen, die den Völkern die Idee der Volkssouveränität und das Streben nach Selbsterhalt austreiben sollen. Am Ende könnte die EU sich zum Transmissionsriemen außereuropäischer Europa-Feinde entwickelt haben.

Diese Aussicht setzt die Befürworter des Nationalstaats länderübergreifend ins Recht und bestimmt ihre Interessengemeinschaft. Der alt-neue Nationalstaat, den sie vertreten, muß in seine Selbstbegründung die Säkularisierung, die Internationalisierung und Individualisierung einschließen und sich verstärkt als eine pragmatische Notwendigkeit definieren, auf die bis auf weiteres nicht verzichtet werden kann.

Seine Homogenität ist eine dynamische und umfaßt auch die Angehörigen anderer Nationalitäten, sofern diese sich individuell in ihn integrieren. Unter säkularen Europäern bereitet das keine Schwierigkeit mehr. Trotz währungspolitischer Verwerfungen sind – um nur dieses Beispiel zu nennen – in der Bundesrepublik keine nationalistischen Feindschaften zwischen Griechen und Deutschen ausgebrochen. Indes arbeiten muslimische Staaten nicht ohne Erfolg daran, in Deutschland Fünfte Kolonnen zu formieren. Vergleichbares gilt für die anderen Länder.

Der Begriff des Eigenen hat sich erweitert, der des Anderen, an dem er sich schärft, ist keineswegs verschwunden und gebietet eine übernationale Kooperation.