© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/17 / 07. April 2017

Gezielte Provokationen
Referendum: Auch deutsche Politiker im Visier des türkischen Geheimdienstes
Paul Leonhard

Türkische Politiker aller Couleur sind zur Zeit in Europa unterwegs: Mitglieder der islam-konservativen AKP, der ultra-nationalistischen MHP, der sozialdemokratischen CHP. Offiziell betreiben sie keinerlei Wahlkampf, sondern beobachten die Stimmabgabe ihrer im Ausland lebenden Landsleute und dokumentieren gemeinsam die Korrektheit des Wahlverfahrens.

Allein in Deutschland dürfen 1,4 Millionen wahlberechtigte Türken noch bis zum 9. April ihre Stimme abgeben. Wahlurnen gibt es in den Generalkonsulaten, an Grenzübergängen, einigen Flugplätzen und in dreizehn Städten wie Dortmund, München, Nürnberg und Hannover, wo teilweise Messehallen angemietet wurden. 

Bei den jüngsten Wahlen hatten knapp 60 Prozent der Deutsch-Türken die von Präsident Recep Tayyip Erdogan geführte AKP gewählt. Auch diesmal sind sie aus türkischer Sicht das Zünglein an der Waage. 

Erdogans Regierung richtet all ihre direkten und indirekten internationalen Aktivitäten darauf aus, ausreichend Auslandstürken, die überwiegend als staatstreu gelten, von der Notwendigkeit der Verfassungsänderung zu überzeugen. Dazu gehören auch die Provokation der deutschen (und niederländischen) Regierung mit Nazi-Vergleichen, das Verlangen türkischer Regierungsmitglieder, in Deutschland öffentlich auftreten zu können, und zuletzt die Übergabe eines Geheimdienstdossiers bei der Münchener Sicherheitskonferenz mit den Namen in der Bundesrepublik lebender tatsächlicher oder angeblicher Unterstützer der Bewegung des muslimischen Predigers Gülen an den Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl. Es soll sich um Hunderte Namen, Adressen, Telefonnummern und auch Fotos gehandelt haben. Für Aufregung hat besonders gesorgt, daß auch die SPD-Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering und die Berliner CDU-Parlamentarierin Emine Demirbüken-Wegner auf der Liste stehen. „Allein der Verdacht, Abgeordnete wie unsere Kollegin Emine Demirbüken-Wegner könnten durch den türkischen Geheimdienst ausspioniert worden sein, stellt einen neuen Tiefpunkt in der Beziehung zur türkischen Regierung dar“, zitierte die Zeit die CDU-Landesvorsitzende Monika Grütters. Der Vorfall sei ein Angriff auf die Unabhängigkeit, die Würde und die Freiheit der Parlamente. Und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) vermutet schon in der „Übergabe des Dossiers eine „Provokation“.

„Türkischer Wahlkampf     das geringere Übel“

Den türkischen Geheimdienstlern dürfte klar gewesen sein, daß die Liste in Deutschland keine Woche geheim bleibt. CSU-Innenpolitiker Stephan Mayer vermutet daher, daß der türkische Geheimdienst genau das gewollt habe, um  in Deutschland lebende Gegner der türkischen Verfassungsreform weiter einzuschüchtern. Wirksamer als durch die deutschen Medien kann Erdogan nicht deutlich machen, daß er das türkische Leben in der Bundesrepublik sehr wohl im Griff hat und ihn wenig interessiert, ob die deutsch-türkischen Beziehungen belastet sind oder nicht. „Es kann nicht sein, daß diejenigen, die der Türkei irgendwie mißliebig sind, Sorge haben müssen, in die Türkei zu fahren“, hieß es in einer ersten Reaktion de Maizières, der damit genau das sagte, was Erdogan klug genug selbst nicht zu sagen wagte.

„Auslandsaufklärung durch Dienste ist okay“, sagte de Maizière im ZDF, „aber hinter unserem Rücken mit Mitarbeitern, die nicht registriert sind, hier Spionage zu machen, das geht nicht.“ Offenbar arbeiten mehr türkische Diplomaten für den Geheimdienst als offziell angegeben. Inzwischen ermittelt die Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts, daß der türkische Geheimdienst MIT in Deutschland Anhänger der Gülen-Bewegung ausspioniert. Sollte es dafür Anhaltspunkte geben, müsse „mit der ganzen Härte des Gesetzes geantwortet werden“, fordert Unionsfraktionschef Volker Kauder. Spionage sei kein Kavaliersdelikt. 

Hätte Erdogan versucht, in Deutschland zu seinen Landsleuten zu sprechen, hätte sich für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine komplizierte Situation ergeben. Ein Auftrittsverbot des türkischen Präsidenten wäre eine politische Entscheidung gewesen, bei der die Bundesregierung abzuwägen hätte, „welche Auswirkungen ein solches auf die politischen Beziehungen mit der Türkei“ habe und „wie wichtig ihr die Verhinderung eines Auftritts des türkischen Präsidenten ist“, so Niels Petersen, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Universität Münster: „Möglicherweise ist türkischer Wahlkampf auf deutschem Boden am Ende doch das geringere Übel.“

Gegen die Verfassungsänderung polemisiert Gökay Sofuoglu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Er rief seine Landsleute auf, die Demokratie gegen Präsident Erdogan zu verteidigen. „Wir wollen nicht schweigend zusehen, wenn in der Türkei die Demokratie abgeschafft wird“, heißt es in einem gemeinsamen Aufruf der Türkischen Gemeinde und des Vereins „Mehr Demokratie“. Ziel sei es, sich mit den Menschen in der Türkei solidarisch zu erklären, die eine offene Diskussion suchen und sich auch unter den schwierigen Bedingungen für Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einsetzen. 

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir appellierte im Bundestag an die in Deutschland lebenden Türken: „Nehmt den Menschen in der Türkei nicht die Freiheit, die ihr hier in unserem Land gemeinsam mit uns genießt.“ Die deutsche Demokratie sei nicht dazu da, in der Türkei eine Diktatur zu errichten. In der Türkei findet das Referendum am 16. April statt. Dann werden auch die im Ausland abgegebenen Stimmen ausgezählt. 


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