© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/17 / 31. März 2017

„Gottlose Mörderhand“
1922: Der Fall Hinterkaifeck erschütterte Deutschland – das Verbrechen ist bis heute nicht aufgeklärt
Martina Meckelein

Auf dem schwarzen Obelisken der auf dem Friedhof in Waidhofen steht ist in goldener Schrift zu lesen: „Gottloser Mörderhand fiel am 31. März 1922 die Familie Gabriel/Gruber von Hinterkaifeck zum Opfer“. Das Grab und ein Marterl mit fast demselben Wortlaut, das ungefähr dort steht, wo einst sich der Einödhof befand – erinnern an sechs grausam getötete Menschen. 

Der Mordfall Hinterkaifeck ist eines der vermutlich schauerlichsten Verbrechen in Deutschland. Und es wurde niemals geklärt. Hinterkaifeck steht für eine tödliche Melange aus Bigotterie, Scham, Schuld und Perversion. Sechs Menschen werden auf dem Hof in Oberbayern in der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922 erschlagen. Mit ungeheurer Brutalität und Mitleidlosigkeit – das jüngste Opfer ist ein Junge von zwei Jahren. Jetzt jährt sich das Verbrechen zum 95. Mal. 

Spurensuche. Auf dem einsam gelegenen Hof Hinterkaifeck, einem Bauernhof bei Gröbern in Oberbayern, leben die Eheleute Andreas (64) und Cäzilia Gruber (72), sowie deren gemeinsame Tochter Viktoria Gabriel (35), geborene Gruber und ihre Kinder Cäzilia Gabriel (7) und Josef (2). Die Hinterkaifecker gelten als fleißig und wohlhabend, aber geizig. Knechte und Mägde bleiben nie lang. Geringer Lohn, wenig Essen, viel Arbeit. Der Hof hat 38 Tagewerk Grund und 12 Tagewerk Wald (rund elf Hek-tar). Im Stall stehen 16 Kühe, zwei Ochsen und mehrere Schweine. Die Gebäude sind heruntergekommen, ohne Elektrizität, der Wohntrakt besteht aus einer Küche, zwei Schlafzimmern und einer Magdkammer.

Sexueller Mißbrauch seit dem 16. Lebensjahr

Die Hinterkaifecker leben zurückgezogen. Und es ist ein offenes Geheimnis: Andreas Gruber, er ist 1,65 Meter groß, untersetzt, hat dunkelblonde Haare und schleche Zähne, vergewaltigt seine Tochter mindestens seit ihrem 16 Lebensjahr. 1903 schüttet Viktoria einer Nachbarin ihr Herz aus. Im Dorf wird getratscht – dem Mädchen hilft aber niemand. Viktoria, ihr haben die Eltern den Hof überschrieben, ist eine schöne Frau mit einer schönen Stimme, sie singt im Kirchenchor. 1914 heiratet sie Karl Gabriel. Ihr Mann zieht auf den Hof, wird als Miteigentümer eingetragen. Zu sagen hat er dort allerdings nichts. Andreas Gruber behält das Heft in der Hand. Karl flüchtet zurück zu seinen Eltern, kehrt zurück. Dann der Kriegsausbruch – Karl fällt am 12. Dezember 1914 in Neuville/Frankreich. „Mei Tochter braucht keinen Mann mehr, dafür bin i da“, soll Andreas Gruber einmal gesagt haben.

Am 9. Januar 1915 bekommt Viktoria ein kleines Mädchen. Wer der Vater ist? Der gefallene Ehemann oder der eigene Vater? Eingetragen wird die kleine Cäzilia auf den Namen Gabriel. Ob es einen Zusammenhang mit der Schwangerschaft gibt, ist unklar, aber gegen Andreas Gruber und seine Tochter Viktoria Gabriel ermittelt zu dieser Zeit die Staatsanwaltschaft wegen „Vergehen wider der Sittlichkeit“. Am 28. Mai 1915 wird Viktoria, also das Opfer, zu einem Monat Haft verurteilt, die sie vom 10. Januar bis 10. Februar 1916 auch absitzt. Ihr Vater sitzt die Strafe, ein Jahr Zuchthaus, in Straubing vom 3. Februar 1916 bis zum 3. Februar 1917 ab. 

Der Nachbar, Ortsvorsteher Lorenz Schlittenbauer, wirbt nach dem Tod seiner Frau 1918 um Viktoria, will sie heiraten und beginnt ein Verhältnis mit ihr. Am 7. September 1919 bekommt Viktoria ihr zweites Kind – Josef. Wiederum die Frage: Wer ist der Vater? Nachbar Lorenz Schlittenbauer oder Andreas Gruber? Schlittenbauer zeigt Gruber wegen Inzest an, der muß kurzzeitig ins Gefängnis. Doch dann zieht Schlittenbauer die Anzeige zurück und erkennt die Vaterschaft an. Später kommt es zu Auseinandersetzungen wegen des Unterhalts für den kleinen Josef – nach Rechtsstreitigkeiten einigen sich Viktoria Gabriel und Lorenz Schlittenbauer.

Im September 1921 verläßt die Magd Kreszenz Rieger fluchtartig den Hof. Sie fühlte sich beobachtet, wird sie später bei der Polizeivernehmung erklären.

Im März 1922 überschlagen sich die Ereignisse. Am 17. März soll der Pfarrer im Beichtstuhl 700 Goldmark entdeckt haben. Das Geld soll von Viktoria stammen, es sei eine Spende für die Mission. Viktoria hat sich in dieser Zeit allerdings 8.000 Mark von ihrer Schwester geliehen, ihr Sparbuch aufgelöst und Pfandbriefe verkauft. Insgesamt 13.000 Mark.

Zu dieser Zeit, so eine Mitschülerin der kleinen Cäzilia später, sei Cilli einmal übermüdet im Unterricht gesessen. Auf die Frage, was denn los sei, soll sie geantwortet haben, ihre Mutter oder ihre Großmutter sei weinend von zu Hause weggelaufen. Bei der Suche nach ihr habe man eine aktuelle Ausgabe der Münchner Zeitung gefunden. Im Ort bezieht jedoch niemand diese Zeitung.

Am 30. März, die Schneedecke ist geschlossen, trifft Andreas Gruber vormittags erst seinen Nachbarn Lorenz Schlittenbauer, später Kaspar Stegmaier. Gruber erzählt beiden, daß ein Einbrecher versucht habe, ins Maschinenhäuschen des Hofes zu gelangen und er hätte Spuren, die zum Hof, aber nicht zurückführen entdeckt. Am Tag darauf trifft um 16.30 Uhr die neue Magd Maria Baumgartner auf dem Hof ein. 

Der mögliche Ablauf der Tat: Abends erschlägt der Täter im Stall zuerst Viktoria Gabriel, dann ihre Mutter Cäzilia und Andreas Gruber, zum Schluß die kleine Cilli, im Wohntrakt die Magd und den kleinen Josef im Kinderwagen.

Am 1. April geht am Abend ein Handwerker am Hof vorbei. Im Backofen brennt ein Feuer, ein Unbekannter blendet ihn mit einer Taschenlampe. Am Montag fällt dem Postboten auf, daß der Kinderwagen nicht wie sonst in der Küche steht. Am Dienstag kommt ein Monteur auf den Hof. Ihm fällt auf, daß alle Türen verschlossen sind, der Hund, ein Spitz, im Haus bellt und die Kühe im Stall brüllen. Nachdem er viereinhalb Stunden lang den Motor repariert hat, bemerkt er, daß die Stalltür sperrangelweit offen steht. Vor der Haustür ist der Hund angeleint und bellt. 

Um 14.30 Uhr trifft der Monteur in Gröbern eine Tochter von Lorenz Schlittenbauer und erzählt ihr, daß niemand auf Hinterkaifeck sei. Schlittenbauer geht mit zwei Nachbarn und seinen beiden Söhnen zum Hof. Sie brechen eine Tür auf und entdecken die vier Leichen im Stadel unter Stroh und einem Brett. Schlittenbauer geht allein weiter durch den Stall zur Haustür und öffnet sie von innen mit einem Schlüssel. Im Schlafzimmer und dem Magdzimmer entdecken sie die anderen Toten. Der Hund läuft ängstlich im Stall herum, hat eine Kopfverletzung. Schlittenbauer bleibt auf dem Hof, während die anderen Männer den Bürgermeister und die Polizei alarmieren.

Versteckte sich der Mörder schon vor der Tat im Haus?

Die Ermordung der Familie hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Schaulustige machen sich auf den Weg nach Hinterkaifeck. Sie betreten den Stall, die Stuben, zerstören Spuren. Die Gerichtsmediziner treffen erst um 22 Uhr ein, die Kripo am Folgetag. 

Die meisten Protokolle und Akten über den Fall zerstörten Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg auf Augsburg. Die Obduktion der Leichen erfolgt auf dem Hof. Berichte gibt es darüber nicht, lediglich Telefonnotizen. Alle Leichen weisen schwerste Schädel- und Kopfverletzungen auf. Die kleine Cillie hat eine klaffende Halsverletzung. Im stundenlangen Todeskampf hat sie sich Haare ausgerissen. Josef ist der Kopf gespalten.

Der oder die Täter leben noch vier Tage mit den Leichen unter einem Dach. Sie füttern und melken das Vieh, essen in der Küche, durchwühlen das Haus – und lassen 17.500 Mark im Schrank unberührt. Der Staatsanwalt lobte 100.000 Mark Belohnung aus – ohne Erfolg. Denunziert werden viele. Lorenz Schlittenbauer beteuert bis zum Tod seine Unschuld. Letzte Vernehmungen werden 1986 geführt. Ein Jahr nach der Entdeckung der Tat wird der Hof von den Erben abgerissen, sein Inventar verbrannt. Dabei entdecken die Handwerker das, was die Polizei so lange gesucht hat: die Mordwaffe – eine Reuthaue. 

Sollte die Erinnerung an die Toten ausradiert werden? Dann ist genau das Gegenteil eingetreten. Filme, Bücher, Dokumentationen berichteten über den Fall, der Rechtsgeschichte geschrieben hat. Das Bayerische Justizministerium regte 1953 an, die Verjährungsfrist für Mord von 20 auf 30 Jahre zu erhöhen. Aktuell ist die Sonderausstellung „Mythos Hinterkaifeck – Auf den Spuren eines Verbrechens“ im Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt zu sehen.