© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/17 / 31. März 2017

Gravierende Mängel bei der Integration
Großbritannien: Das Königreich kämpft in erster Linie mit hausgemachtem Terror / Nur die verstärkte Überwachung wird die Probleme nicht lösen
Marc Zoellner

Dem digitalen Auge entgeht fast niemand in Großbritannien: Montiert auf Ampeln und Laternen, in Bahnhöfen, Supermärkten und selbst auf vielen Baumkronen verfolgt ein engmaschiges Netz von Überwachungskameras Bürger und Besucher auf Schritt und Tritt.

 Über sechs Millionen elektronische Spione, schätzen Experten, sollen im Vereinigten Königreich bereits installiert worden sein. Davon hängen allein eine halbe Million in der Innenstadt Londons. Seit 2011 hat sich die Zahl der Kameras in Großbritannien damit mehr als verdreifacht. London gilt mittlerweile als Welthauptstadt der öffentlichen Überwachung – jeder seiner Einwohner wird statistisch gesehen über dreihundertmal pro Tag auf Film gebannt.

Innenministerin will Datenüberwachung stärken

Doch den Terroranschlag von vergangener Woche, als im Herzen Londons, direkt vor den Toren des Westminsterpalastes, vier Menschen getötet und über vierzig weitere verletzt wurden, wußten auch die allgegenwärtigen Linsen der Kameras nicht zu verhindern.

 Grund genug für die Regierung des Vereinigten Königreichs, nach neuen Wegen der Massenüberwachung zu suchen. Denn der Attentäter Khalid Masood, so die Ermittler, habe noch wenige Minuten vor seiner Amokfahrt auf der Westminster-Brücke über die Chatanwendung WhatsApp mehrere Textnachrichten versandt. An wen jedoch, ist bislang unbekannt. Die Daten von WhatsApp sind für die britischen Behörden nicht entschlüsselbar.

„Vollkommen inakzeptabel“, zürnte entsprechend die britische Innenministerin Amber Rudd am vergangenen Sonntag. „Für Terroristen sollte es keinen Platz geben, sich zu verstecken. Wir müssen veranlassen, daß Organisationen wie WhatsApp keine geheimen Räume für Terroristen bereitstellen, wo diese miteinander kommunizieren können“, unterstrich die konservative Politikerin. 

Daß zu eben dieser Frage das erste gemeinsame Treffen zwischen den regionalen Vertretern WhatsApps, einem Tochterunternehmen des Social-Media-Moguls Facebook, und dem britischen Innenministerium bereits für Ende dieser Woche vereinbart wurde, zeigt, wie dringlich Rudds Team ein umfassender Zugriff auf die verschlüsselten Textbotschaften ist: Denn die Terrorwarnstufe Großbritanniens ist derzeit so hoch wie zuletzt in den 1970ern, dem Höhepunkt des bewaffneten Konflikts der Monarchie mit der IRA.

Allein in den vergangenen fünf Jahren, so warnt eine Anfang März veröffentlichte Studie der Cambridger Denkfabrik Henry Jackson Society (HJS), haben sich islamistische Terrorakte auf britischem Boden beinahe verdoppelt. So wie der 52jährige Afro-Brite Khalid Masood, der als Adrian Russell Elms im kleinen ostenglischen Städtchen Dartford geboren wurde und erst Anfang des Jahrtausends zum Islam konvertierte, setzt sich das Gros der islamistischen Gefährder aus Einheimischen zusammen. Genauer gesagt aus Einwanderern der ersten und zweiten Generation, die schon seit Jahrzehnten in Großbritannien zu Hause sind.

„Unsere Sicherheitsbehörden werden sich besonders zu sorgen haben, daß die größte Bedrohung hausgemacht bleibt“, schreibt Hannah Stuart, Wissenschaftlerin an der HJS, in ihrem Forschungsbericht, „und daß Frauen eine immer bedeutendere Rolle im Terrorismus spielen.“ 

Ghettobildung ist das größte Problem

Tatsächlich hat sich die Quote festgenommener weiblicher Verdächtiger seit 1998 mittlerweile auf über elf Prozent verdreifacht, bestätigte Mark Rowley vom Scotland Yard zur Veröffentlichung des Berichts. Ebenso, daß zwar gut die Hälfte aller verhafteten Islamisten pakistanische Wurzeln besäßen, über 72 Prozent jedoch auch im Besitz eines britischen Passes gewesen seien.

Besonders auffällig sind dabei die regionalen Unterschiede. Denn nach dem Londoner Ballungsraum, woher über zwei Drittel der Verdächtigen stammten, gab jeder zehnte verurteilte Terrorist der vergangenen Dekade die Stadt Birmingham an – genauer gesagt, einen von fünf kleinen Wahlkreisen der Millionenmetropole, die sowohl von hohem Migrantenanteil als auch von großer Armut geprägt sind. Bei fast 9.500 Wahlkreisen im Königreich sei dies wohl kaum ein Zufall, findet Maajid Nawaz vom Thinktank Quilliam Foundation, einer Londoner Organisation, die sich seit 2008 um die Resozialisierung von Aussteigern aus der islamistischen Szene Großbritanniens bemüht.

„Diese Gebiete, in denen ein geballtes muslimisches Ghetto existiert, welches sich nicht mit dem Rest des Landes vermischt“, erklärte Nawaz zum Monatsbeginn im Interview mit dem Daily Express, „diese isolierten Gemeinschaften enden darin, Menschen hervorzubringen, welche die Werte unserer Nation nicht verstehen. Für terroristische Organisationen ist es damit leicht, diese zu rekrutieren.“

Auch in einem anderen Befund des HJS-Berichts sieht Nawaz sich bestätigt: Denn zumindest ist in Großbritannien von sogenannten „lone wolves“, von im Internet radikalisierten Einzeltätern, kaum eine Spur zu sehen. Einsame Wölfe machen im Königreich gerade einmal zehn Prozent der Verdächtigen aus. „Die überwiegende Mehrheit der Terroristen ist an Netzwerke geknüpft, welche inmitten unserer Gesellschaft existieren“, so Nawaz. 

Gerade die muslimischen Gemeinden, so sein Fazit, seien in die Pflicht genommen, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Denn im Musterland der Überwachung herrsche vor allem eines: „ein gravierender Mangel an Integration.“