© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/17 / 31. März 2017

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Nerven liegen blank
Paul Rosen

Beinahe wäre Norbert Lammert als Bundestagspräsident in die Parlamentsgeschichte eingegangen, der sich allein der überparteilichen Amtsführung verpflichtet fühlt. Unvergessen ist, wie er Gegnern der Euro-Rettung Redezeit einräumte und damit die von oben verordnete Alternativlosigkeit durchbrach. 

Nun hat Lammert zum Ende seiner Amtszeit etwas getan, was ein Parlamentspräsident nicht tun sollte: Er hat Partei ergriffen. Es geht um den neuen Bundestag nach der Wahl am 24. September. Den eröffnet üblicherweise der älteste Abgeordnete, der auch einige Worte spricht. Lammert will das ändern und den dienstältesten statt lebensältesten Abgeordneten als Präsidenten einsetzen. Damit solle sichergestellt werden, daß ein Parlamentarier die erste Sitzung des neugewählten Bundestags leite, der über ausreichende einschlägige Erfahrungen verfügt.  

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Lammerts Sorge dient nicht der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Hohen Hauses, sondern zielt direkt gegen die Möglichkeit, daß ein Abgeordneter der AfD Alterspräsident wird. Nach derzeitiger Lage könnte Wilhelm von Gottberg, früher Chef der Landsmannschaft Ostpreußen, Alterspräsident werden. 

Sollten die Fraktionen Lammerts Vorstoß aufgreifen, wäre möglicherweise Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) dienstältester Abgeordneter im 19. Deutschen Bundestag. Beifall bekam Lammert schon von der Geschäftsführerin der Linksfraktion, Petra Sitte. Der Vorgang zeigt, wie blank die Nerven ob der zu erwartenden Alternative im Hohen Haus liegen. 

Besonnen reagierte die aus der CDU ausgetretene Abgeordnete Erika Steinbach, die es ablehnte, denjenigen zum Alterspräsidenten zu machen, der „am längsten ununterbrochen Diäten bezogen“ hat. Eine Demokratie müsse Meinungen aushalten, selbst wenn diese keine Regierungsmehrheiten haben. „Deutschland hat in der Weimarer Republik Clara Zetkin (KPD) als Alterspräsidentin ebenso gut überstanden wie zur Zeit der Bundesrepublik Stefan Heym (PDS) oder Fred Gebhardt (PDS)“, so Steinbach. 

Wenn die Etablierten der AfD schon das harmlose Alterspräsidentenamt nicht gönnen, wird man sich nicht wundern müssen, daß die AfD bestenfalls Vorsitze von unbedeutenden Bundestagsausschüssen bekommen wird, aber keinen wichtigen wie den des Haushaltsausschusses, der der stärksten Oppositionskraft zusteht. Die AfD hat Chancen, größte Oppositionsfraktion zu werden, wenn die Große Koalition bleibt.  

Wie groß die Verachtung für die potentiellen neuen Kollegen ist, ließ der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU, Michael Grosse-Brömer, in einer Ältestenratssitzung am 9. März deutlich werden, als er darauf hinwies, daß in der nächsten Wahlperiode die zu erwartenden Glückwünsche von Kolleginnen und Kollegen zu ersten Reden von Abgeordneten außerhalb des Plenarsaals ausgesprochen werden sollten. Dann kommt niemand mehr in die Verlegenheit, einem AfD-Politiker zur ersten Rede gratulieren zu müssen.