© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Friedhof der Reformen
Josef Kraus, langjähriger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, beklagt die das bundesdeutsche Schulsystem ruinierende Bildungsreformitis
Konrad Adam

Ich habe mich nicht danach gedrängt, dies Buch zu besprechen. Als ich den Titel „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ erfahren hatte, fiel mein Blick auf das Regal, in dem sich Bücher mit Titeln wie Bildungsnot, Bildungslüge, Bildungsmisere oder Bildungskatastrophe stapeln. „Noch eins davon?“ dachte ich und wollte schon abwinken. Aber dann erinnerte ich mich an den Autor, an Josef Kraus. Der versprach einiges, und so griff ich zu. Ich habe es nicht bereut.
Neu, überraschend, sensationell ist kaum etwas von dem, was Kraus zu sagen hat. Aber das ist kein Nachteil, denn in der uralten Kunst der Bildung und der Erziehung kann nur das Falsche wirklich neu sein. Das, immerhin, hat die Masse der Pseudo-Innovationen bewiesen, mit denen die deutsche Bildungslobby ein Schulwesen, das ehemals Vorbild war für alle Welt, auf den Hund gebracht hat. Heute kommt niemand mehr auf den Gedanken, sich ausgerechnet in Deutschland umzusehen, wenn er nach einem Muster für Schulen oder Hochschulen sucht.
Anstatt kopiert zu werden, kopieren die Deutschen, mal in Amerika, mal in Japan, mal in Finnland – die Vorbilder wechseln. Sie müssen wechseln, weil alles darauf ankommt, das Karussell in Gang zu halten und es anders, irgendwie anders zu machen als bisher. So ist die deutsche Schullandschaft zum Friedhof der Reformen geworden. Wer erinnert sich noch ans Sprachlabor? An Mengenlehre, Ganzwortmethode und Grundschul-Englisch? An schülerzentrierten, lernzielorientierten, wissenschaftspropädeutischen Unterricht? Nur die Kinder, die ihm zum Opfer gefallen sind. Die allerdings ein Leben lag.
Den elaborierten Blödsinn, mit dem sich die Pädagogik den Ruf einer wissenschaftlichen Disziplin erschwindeln wollte, nimmt der langjährige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, nicht ernst. Er setzt ihm etwas Handfestes entgegen: die Erfahrung, über die er als Lehrer, Direktor eines Gymnasiums im bayerischen Landshut, reichlich verfügt. Was er mit Schülern, Eltern und Kollegen erlebt hat, untermauert er mit Analysen und Diagnosen, Zahlen und Zitaten. Zu seinen Lieblingsfeinden gehören die Bertelsmann-Stiftung, die aus der Schule ein Geschäftsfeld machen will, und die OECD, die Politik meint, wenn sie Bildung sagt. Er mokiert sich über Lohnschreiber wie Klaus Klemm, Zuträger wie Andreas Schleicher und Maulhelden wie Richard David Precht. Leider fehlt Hartmut von Hentig, der gemeinsam mit seinem Freund Gerold Becker, dem Leiter der Odenwaldschule, die wissenschaftliche Pädagogik um die wissenschaftliche Pädophilie bereichert hat.
Was diese Leute als Reformen propagiert haben, war eine Rabattschlacht mit dem Ziel, die Ware Bildung flächendeckend loszuwerden. Ihre wichtigsten Botschaften waren durchweg negativ formuliert, sie begannen mit Wörtern wie „ohne“ oder „kein“ und endeten mit der Parole „Schluß mit ...!“ Also: Schule ohne Angst! Kein Sitzenbleiben! Schluß mit dem Notendruck, dem Leistungsterror, den Hausaufgaben und so weiter. Die Werbebranche war schon immer einfallsreich, und mehr als Werbung ist den Schulfachleuten niemals eingefallen.
Leider hatten sie damit Erfolg. In Baden-Württemberg brauchten die schwarzen, roten oder grünen Kultusminister nur ein paar Jahre, um den Anschluß nach unten zu schaffen und die Schüler beim Lesen, Sprechen und Schreiben auf ein Niveau zu drücken, auf dem sich sozialdemokratische Musterstaaten wie Bremen und Berlin schon immer befunden hatten. Das brachte den Hamburger Schulsenator auf den Gedanken, den Leistungsschnitt des Landes dadurch zu verbessern, daß er Weisung gab, alle Zensuren um einen vollen Punkt anzuheben. So wurde aus der Fünf eine Vier und aus gleich schlecht gleich gut.
Nutznießer der ewigen Reform sind diejenigen, die sie gefordert und vorangetrieben haben, die Bildungsplaner, Bildungsforscher, Bildungsreformatoren. Jetzt sitzen sie auf ihren Planstellen, müssen bei Laune gehalten, bezahlt und beschäftigt werden. Die jüngste Arbeitsbeschaffungsmaßnahme dieser Art war das Programm „Schreiben nach Gehör!“ Es könnte aus der Legasthenie eine Volkskrankheit machen, aber auch Tausende von Spezialisten hervorbringen, die sich der Therapie eines Phänomens zuwenden, das es vor ein paar Jahren noch nicht gab. Und nur das zweite zählt.
Weitere Renner im Beschäftigungsprogramm für beamtete Schulreformer sind die Genderei, die Inklusion und die Metastasen des Kompetenzbegriffs. Nachdem dieser Luftballon wegen Inhaltlosigkeit in sich zusammenzufallen drohte, mußte er immer wieder neu aufgepumpt werden, zum Beispiel mit Definitionen wie dieser: „Kompetenzen sind kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen und Anforderungen in bestimmten Domänen im Sinne von spezifischen Lern- und Handlungsbereichen.“ Natürlich würde man gern etwas Bestimmtes über diese bestimmten Domänen und etwas Spezifisches über die spezifischen Lernbereiche erfahren. Aber das gibt es nicht, denn die moderne Bildungsforschung kommt ohne Inhalte aus.
Was Kraus gegen solche und ähnliche Banalitäten aufzubieten hat, sind ein paar alte Wahrheiten. Er betont den Wert des Lesens und die Bedeutung von Büchern, wirbt überhaupt für die herkömmlichen Medien, die zur Auswahl ermutigen und zum Urteil berechtigen; deshalb will er das Handy in der Schule verbieten. Um weiterzukommen, tritt er als Lehrer für die Eltern ein. Er erinnert sie daran, daß sie es sind, denen das Grundgesetz das Recht und die Pflicht zur Erziehung ihrer Kinder zuspricht, und ruft sie zur Revolte gegen eine Erziehungsclique auf, die ihre Inkompetenz mit der Arroganz der Macht verbrämt.
Josef Kraus: Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen. Herbig Verlag, München 2017, gebunden, 272 Seiten, 22 Euro