© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Das Elend der Welt zu Gast bei Freunden
Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Lothar Fritze sieht in dem grassierenden „moralischen Universalismus“ die Axt an der Wurzel des Selbstbehauptungswillens
Günter Scholdt

Endlich wieder ein wissenschaftliches Werk, das man gerne rezensiert: Lothar Fritzes „Kritik des moralischen Universalismus“, eine intellektuell anregende und abwägende, durch zahlreiche lebensnahe Beispiele unterfütterte Studie. Sie handelt, wie der Untertitel treffend erläutert, vom „Recht auf Selbstbehauptung in der Flüchtlingskrise“. Und sie argumentiert mit überzeugenden Belegen aus so unterschiedlichen Bereichen wie Moralphilosophie, Psychologie, Anthropologie, Verhaltensbiologie, Verfassungsrecht, Religionsgeschichte oder Soziologie.
Viele Hinweise bieten eine erste Einführung in die jeweilige Problematik.Hinzu kommen Dutzende kluger Detailbeobachtungen oder Klarstellungen wie: „Das Recht auf Selbstbehauptung umfaßt den Schutz der eigenen Identität und der eigenen Art zu leben.“ Oder: „Kulturelle Homogenität ist eben kein Selbstzweck, sondern der gemeinsame Boden, auf dem unterschiedliche Interessen als berechtigte Interessen anerkannt werden.“ Zur moralischen Haftung für das Elend der ganzen Welt heißt es: „Generell gilt: Verantwortlichkeit setzt Zuständigkeit voraus.“ Das führt ihn zur Zuspitzung: „Haben wir auch die Pflicht, Völkern zu helfen, wenn diese ihre Not selbst verschuldet haben?“
Fritze ruft nicht zu Herzlosigkeit auf, aber plädiert für eine nüchterne Machbarkeitsdiagnose, die elementare Lebenstatsachen berücksichtigt. Rationale und verantwortungsbewußte Politik erkennt er daran, daß sie sorgsam prüft, welche Entwicklungen tatsächlich unaufhaltsam sind. Unerwünschtes beschleunigt sie nicht, sondern sucht „den Sprengsatz zu entschärfen“, der aus dem „Zusammenprall von Kulturen entstehen kann“.
Die Leitvorstellung des „moralischen Universalismus“, die Interessen jedes Menschen der ganzen Welt nicht geringer zu achten als die eigenen (respektive die der eigenen Nation), hält er für lebensfremd-utopisch. Die daraus folgende Öffnung der Grenzen für alle Bedürftigen sei daher nicht praktikabel, unzumutbar und in der Konsequenz gesellschaftlich verheerend. Eine Kernstelle lautet: „Auch dieser neuerliche Versuch, das säkularisierte kommunistische Heilsversprechen endlich einzulösen, wird scheitern. Nur könnte er diesmal die Selbstzerstörung Europas bedeuten. (...) Kulturfremde in einer solchen Größenordnung zu integrieren ist aussichtslos, darauf zu hoffen, daß sie nicht kommen werden, illusorisch, den Eindruck zu erwecken, wir seien in der Lage, durch Konfliktmanagement und Entwicklungshilfe die Probleme in ihren Ländern zu lösen, die sie zum Weggang treiben, Dummenfang.“
Fritzes Darstellung vermeidet Polemik, doch zeigt er deutlich Flagge, besonders wo die idealistisch-illusionistische Willkommenskultur durch Diffamierung Nicht-Überzeugter ihre Krallen ausfährt. Es gehe nicht an, den politischen Gegner „nur noch als moralisch verkommenen Menschheitsfeind“ wahrzunehmen. „Diese Praxis des Gleichschaltens, Anklagens und Verächtlichmachens ist nichts anderes als ein totalitärer Furor, der die öffentliche Kommunikation vergiftet und ins Irrationale treibt.“
Allen Freunden anspruchsvoller Aufklärung ist dieser handliche Band also wärmstens zu empfehlen, wiewohl den Leser während seiner Lektüre eine Frage immer stärker plagen könnte: Für wen, jenseits der bereits „Geretteten“, ist dieser Text, der mit Vernunftgründen unermüdlich gegen Gedankenblockaden anrennt, eigentlich geschrieben? Für eine politische Klasse, die den Teufel tut, sich um Fritzes Ratschläge zu scheren, sondern moralisch inkriminiert und gerade jetzt durch dubiose Wahlreform-Projekte zu Lasten der „Biodeutschen“ schlicht Fakten schaffen will? Für eine Universität, die kaum einmal das Niveau des 16. Jahrhunderts hält, wo immerhin noch Eck mit dem Ketzer Luther disputieren durfte?
Heute verhindern „Studierende“ mit Trillerpfeifen und Fäusten dergleichen und werden – wie jüngst an der Universität Magdeburg geschehen – auch noch vom Dekan belobigt. Viele Professoren schweigen verständlicherweise, um der sozialen und wissenschaftlichen Isolierung unter ihresgleichen oder gar Mobbing zu entgehen. Und lammfromme Zöglinge der Alma mater eifern wie Teheraner Tugendgarden, daß jegliches „Unkorrekte“ aus Bibliothekskatalogen und Bibliographien verschwinden möge. Haben wir also noch die Debattenkultur, die Fritzes rationales Diskursangebot voraussetzt? Oder erscheint die Analyse als unzeitgemäßes Glasperlenspiel in einer puren Sphäre der Macht, die Meinungen gar nicht mehr prüft, sondern politischen Streit durch „zivilgesellschaftliche“ Boxhandschuhe „alternativlos“ entscheidet?
Wenn dem so ist, rückt allerdings eine Frage ins Zentrum: diejenige nach den Interessen und Nutznießern eines solchen Universalismus, der uns zu Gefangenen einer strangulierenden Ideologie macht. Sie wird bereits im Vorwort ausgeklammert. Aber sie sollte zwingend und umgehend beantwortet werden. Und wenn dies abermals von Fritze in der für ihn kennzeichnenden gründlichen und sachlichen Form geschähe, wäre dies hochwillkommen.
Lothar Fritze: Kritik des moralischen Universalismus. Über das Recht auf Selbstbehauptung in der Flüchtlingskrise. Schöningh Verlag, Paderborn 2017, gebunden, 277 Seiten, 36,90 Euro