© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Hitlers Rußlandversteher
Mit der Dokumentenedition über den Diplomaten Rudolf Nadolny richtet der Historiker Winfried Baumgart seinen Fokus auf das schwierige deutsch-russische Verhältnis
Stefan Scheil

Nachdenken über die deutsch-russischen Beziehungen hat derzeit Konjunktur. Da wollte Winfried Baumgart offenbar nicht zurückstehen und hat nun eine Dokumentenedition herausgebracht, die den deutschen Diplomaten Rudolf Nadolny als Vordenker in dieser Frage zeigt.
Aus dem reichhaltig vorhandenen Material, zum Beispiel aus dem Nachlaß Nadolnys, der sich im politischen Archiv des Auswärtigen Amts befindet, ist eine gediegene Auswahl entstanden. Sie umfaßt Aufzeichnungen, Berichte und Überlegungen Nadolnys, aber auch Einschätzungen seiner sowjetrussischen Gesprächspartner. Etliches davon ist allerdings aus bereits gedruckten Akten zur deutschen Auswärtigen Politik und russischen Editionen übernommen.
Nun war Rudolf Nadolny auf diplomatischem Parkett im Lauf der Zeiten so manches: Den ersten Auslandsposten erhielt er 1903 im konsularischen Dienst in Sankt Petersburg. Dies scheint ihn tief geprägt und den dauerhaften Wunsch nach einer Rückkehr erzeugt zu haben. Doch sollten bis dahin viele Jahre vergehen. Im Auswärtigen Amt wurde er im weiteren vorwiegend mit balkanischen und nahöstlichen Angelegenheiten betraut. Albanien und Aserbaidschan gehörten zu den Stationen. Während der Kriegszeiten ab 1914 arbeitete er an der Förderung von Unabhängigkeitsbewegungen in Finnland und Litauen mit, um das zaristische Rußland zu schwächen.
Später amtierte Nadolny als Bürochef bei Reichspräsident Friedrich Ebert, Gesandter in Stockholm und Botschafter in der Türkei. Er wurde auch als deutscher Repräsentant bei der 1932 eröffneten Genfer Abrüstungskonferenz ausgewählt. Nachdem diese Aufgabe durch die Sabotage jeder Rüstungsvereinbarung seitens Frankreichs und den schließlichen Austritt Deutschlands entfallen war, erhielt Nadolny endlich den Posten, den er haben wollte: Im November 1933 trat er seine Stelle als deutscher Botschafter in Moskau an.
Rudolf Nadolny hat heutzutage das für einen deutschen Diplomaten dieser Zeit ungewöhnliche Schicksal, im Auswärtigen Amt weiterhin als traditionswürdig zu gelten. Man rechnet ihm positiv an, bereits nach einem halben Jahr im Frühsommer 1934 seinen Moskauer Posten zur Verfügung gestellt zu haben und sieht großzügig darüber hinweg, daß er ihn erst 1933 angetreten hatte, sich also dem neuen Regime zunächst einmal vorbehaltlos zur Verfügung stellte.
Die Gründe von Nadolnys Rücktritt scheinen jedoch kaum im Bereich grundsätzlicher Regimekritik zu finden zu sein. Er hatte seine Mission in Moskau als Auftrag für den Abschluß eines sowjetisch-deutschen Ausgleichs interpretiert und schob mögliche ideologische Hindernisse einfach beiseite.
Den nationalsozialistischen Vorstellungswelten kam er dabei zumindest verbal weit entgegen. „Die Moskauer Judenherrschaft braucht uns an sich nicht zu stören“, ließ er das Auswärtige Amt im Januar 1934 in einer großangelegten Lageeinschätzung wissen. Man werde schließlich auch mit einem reinen Judenstaat später einmal Beziehungen haben müssen. Als Berlin nach einigen Monaten wissen ließ, keinen Fortschritt in diese Richtung, sondern eine bloße Verwaltung der bestehenden schlechten Beziehungen zu wollen, warf Nadolny sein Amt enttäuscht hin.
Er zog sich jedoch nicht grundsätzlich aus dem diplomatischen Dienst zurück und erhielt von Außenminister Konstantin von Neurath bescheinigt, man sei sich lediglich in einer Sachfrage nicht einig. Später schrieb Nadolny den 1939 doch noch von Wjatscheslaw Molotow und Joachim von Ribbentrop geschlossenen sowjetisch-deutschen Vertrag seinem fortdauernden Einfluß zu. Nach 1945 hatte er phasenweise auch wieder Beziehungen zur sowjetischen Besatzungsmacht.
Herausgeber Baumgart stellt die Frage, ob Nadolny „Rußlandkenner“ oder „Rußlandversteher“ gewesen sei. Wenn man als „Versteher“ leicht ironisch jemanden einordnet, der alle einlaufenden Informationen in eine einzige Richtung interpretiert, trifft wahrscheinlich letzteres zu. Nadolny dachte geopolitisch, beziehungsweise „großpolitisch“, wie eines seiner Lieblingswörter lautete, und sah Rußland unter diesen Gesichtspunkten als den möglichen und sogar unvermeidlichen Partner für die deutsche Politik. Das galt bei ihm auch für Sowjetunion, was erstaunlich ist. Denn in den hier abgedruckten Analysen, die Nadolny während der kurzen Zeit als Botschafter geschrieben hat, wird die UdSSR umfangreich und zutreffend als ein totalitär verwaltetes, extrem expandierendes, militärisch zur ersten Kategorie der Welt gehörendes und weltrevolutionäres Unternehmen skizziert.
Es bestehe kein Zweifel, daß die dort getroffenen Maßnahmen letztlich das Ziel der Vernichtung der kapitalistischen Welt verfolgen würden. Dessen ungeachtet empfahl er Ende Mai 1934 eine beiderseitige deutsch-sowjetische Erklärung, den jeweils anderen Partner weder direkt noch indirekt attackieren zu wollen. Nun wäre dies 1934 wohl ebenso wertlos gewesen, wie es sich 1939 als wertlos herausstellen sollte. Die deutsch-russischen Beziehungen waren und bleiben schwierig, unter allen ideologischen Vorzeichen. Dies zeigt auch dieser informative Band über Rudolf Nadolny.
Winfried Baumgart: Botschafter Rudolf Nadolny. Rußlandkenner oder Rußlandversteher? Aufzeichnungen, Briefwechsel, Reden 1917–1953. Schöningh Verlag, Paderborn 2017, gebunden, 449 Seiten, Abbildungen, 59 Euro