© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Veränderte Tonlagen
Auf der Suche nach unserer Identität: Der Germanist Dieter Borchmeyer will die Frage ergründen, was das Deutschsein eigentlich ausmacht. Leider mißlingt dieser Versuch, weil er sich nicht aus überkommenen Denkschablonen eines deutschen Sonderwegs lösen kann
Karlheinz Weißmann

Eintausendsechsundfünfzig Seiten, davon zwanzig Seiten für das Literaturverzeichnis, mehr als dreitausend Fußnoten: das alles in zwölf Kapiteln, das alles zur Frage „Was ist deutsch?“ Der Literatur- und Theaterwissenschaftler Dieter Borchmeyer hat den Versuch einer Beantwortung unternommen und spart wenig aus, was in der deutschen Geistesgeschichte zu diesem Thema gesagt wurde.
Seinen Ausgangspunkt nimmt er bei der Bildung des modernen deutschen Nationalbewußtseins am Beginn des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum steht dabei die Abwendung von den weltbürgerlichen Vorstellungen der Spätaufklärung und der Klassik in Auseinandersetzung mit den Ideen der Französischen Revolution und des napoleonischen Machtanspruchs. Es folgen Abschnitte, in denen es Borchmeyer um eine „Phänomenologie des Deutschen“ geht, womit bestimmte, als typisch geltende Eigenschaften – Doppelgesichtigkeit, Treue, Innerlichkeit etc. – gemeint sind, dann um die Versuche, eine besondere deutsche Identität mittels Wiederentdeckung des Mythos zu begründen, die Kritik, vor allem die Selbstkritik am Deutschen, das Problem der deutschen Formlosigkeit, die „Erfindung der deutschen Klassik“, die Rolle nationaler Symbole, das Verhältnis von Deutschtum und Judentum, die Bedeutung der deutschen Universität und der deutschen Musik, Thomas Manns „Summe des Deutschtums“ und zuletzt um die Deutschen seit der Wiedervereinigung.
Wer angesichts dieser Auflistung den Eindruck hat, daß die Ordnung der einzelnen Teile etwas disparat wirkt, täuscht sich nicht. Aber es gibt bei Borchmeyer durchaus einen roten Faden, wenn er etwa die bedeutenden Denker, die sich mit dem Problem des Deutsch-Seins befaßt haben – insbesondere Wagner, Nietzsche, Mann –, immer wieder unter verschiedenen Aspekten zu Wort kommen läßt. Wohlwollend könnte man auch von einer Art Meditation über ein so schwerwiegendes Problem sprechen, wie das, was uns ausmacht. In jedem Fall werden dem Leser viele überraschende oder in dieser Breite selten dargebotene Reflexionen zum Thema geboten. Die Kenntnis der Materie ist Borchmeyer sowenig zu bestreiten wie die gekonnte und oft erhellende Verknüpfung des scheinbar Auseinanderliegenden.
Trotzdem muß man das Projekt insgesamt als gescheitert betrachten, wird der erhobene Anspruch nicht eingelöst. Dafür gibt es drei Gründe.
Zum ersten fehlt bei Borchmeyer die historische Tiefendimension. Die Ausblendung der Anfänge der deutschen Geschichte und der deutschen Vorgeschichte ist konventionell im schlechten Sinn des Wortes. Über die Vorstellung, daß die europäischen Nationen Schöpfungen der Neuzeit oder gar der revolutionären Epoche seien, ist die historische Forschung längst hinweg. Und wenn man wie Borchmeyer die Bedeutung der Eliten für die Entstehung und Aufrechterhaltung von nationaler Identität betont, ist das Selbstverständnis als Deutsche am Hof, in der adeligen Führungsschicht, eines Teils der Klerikerschaft, unter den auch mit dem Ausland Handel treibenden Kaufleuten und den gebildeten Bürgern unbestreitbar. Und wenn man von „Frühnationalismus“ spricht, dann hätte der Begriff seinen Sinn im Hinblick auf das 16., nicht auf das 19. Jahrhundert. Schließlich kann man von den objektiven Bedingungen für die Entstehung des deutschen Volkes in Antike und Spätantike nicht einfach absehen unter Rekurs darauf, daß Tacitus mit der „Germania“ eigentlich nur eine pädagogische Absicht gegenüber seinen dekadenten römischen Zeitgenossen verfolgte.
Zum zweiten fehlt bei Borchmeyer die Erdung. Denken findet für ihn im mehr oder weniger luftleeren Raum statt. Um nicht noch einmal die Bedeutung des Versailler Diktatfriedens für die geistige Atmosphäre der zwanziger Jahre zu bemühen, sei nur darauf hingewiesen, daß es bei ihm gar kein Nachdenken darüber gibt, woher der antifranzösische Furor eines Arndt, eines Fichte oder Kleist rührte. Kein Wort wird verloren über die perfide Politik, die Frankreich jahrhundertelang gegen das Reich betrieben hat, von der gemeinsamen Umklammerung mit den Türken über die Wegnahme des Elsaß, die furchtbare Verwüstung der Pfalz bis zu den Verheerungen, die die Truppen der Republik und Napoleons angerichtet hatten.  
Zum dritten fehlt bei Borchmeyer der notwendige Vergleich. Vieles, was weltanschaulich als so ganz und gar deutsch erscheint, hatte durchaus seine Parallelen in England, Frankreich, Polen oder Rußland. Es soll damit das Vorhandensein eines deutschen Eigenwegs gar nicht bestritten werden, den man durchaus mit der Reformation beginnen lassen kann, um ihn über Klassik und Romantik und die Glanzleistungen deutscher Literatur und Philosophie bis zu Wagner und Nietzsche zu führen. Aber bei Borchmeyer geht es um einen deutschen Sonderweg. Er kommt nicht los von Plessners Urteil über die „verspätete Nation“. Man könnte über andere Schiefheiten und die Fehleinschätzungen im Geist des linksliberalen Mainstreams („Die um sich greifende Fremdenfeindlichkeit, die in dem Gefühl einer Bedrohung der eigenen Identität und sozialen Existenz gründet und in den rechtsextremen Mordkomplotten des NSU seit 2000 gipfelte, ist cum grano salis mit der spezifischen Ausprägung der Judenfeindschaft seit dem späten 18. Jahrhundert vergleichbar.“) leichter hinwegsehen, wenn nicht dieses grundsätzliche Problem bestünde.
Diese Feststellungen sind um so bedauerlicher, als sie auch Borchmeyers vorsichtiges Wohlwollen gegenüber dem Nationalen und seine optimistischeren Schlußfolgerungen unglaubwürdig machen: Wie soll man sich den Ausgleich vorstellen zwischen der Forderung, aus den Lektionen der dunkelsten Phasen unserer Geschichte sei abzuleiten, daß wir ein Asyl für die Mühseligen und Beladenen des Rests der Menschheit bieten müßten, während gleichzeitig ein Mehr an politischem Realismus gefordert wird? Wie sollen die Deutschen ihre traditionelle Aufgabe als Volk der Mitte und Vermittler zwischen Ost und West, zwischen Reichsidee und Nationalstaat, zwischen Einzelnem und Universalität, wieder in Angriff nehmen, wenn sie gleichzeitig mit dem Odium leben müssen, daß sie Gebrandmarkte bleiben, solche, denen man nicht über den Weg trauen darf und denen man im Hinblick auf ihre Existenz als Gemeinschaft kein Recht auf Normalität zubilligt?
Borchmeyer liefert keine Lösungen für diese Probleme. Nicht einmal belastbare Ansätze. Kann er auch nicht. Denn dazu hätte er sich von jenem alten Denken lösen müssen, an dem er im Zweifel doch festzuhalten entschlossen ist, nicht nur aus Gewohnheit, sondern auch, weil dieses Denken mit intellektuellem Machtanspruch zu tun hat. Die veränderte Tonlage kann darüber nicht hinwegtäuschen. Bestenfalls darf man darin ein Indiz sehen für das Bedürfnis, sich auf eine neue Lage einzustellen, von der man noch nicht weiß, wie sie aussehen wird, von der man aber ahnt, daß sie eine andere als die bisherige sein wird.

Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst. Rowohlt Verlag, Berlin 2017, gebunden, 1.056 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro